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Im Land des Regengottes

Im Land des Regengottes

Titel: Im Land des Regengottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gina Mayer
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ich den Finger in den Mund schob, löste er sich. Ich zog ihn ab und steckte ihn in meine Tasche.
    Plötzlich musste ich an eine Predigt von Freudenreich denken, die einzige Predigt, die er auf Deutsch gehalten hatte, solange ich in Bethanien gewesen war. Es war am ersten Sonntag nach unserer Ankunft in der Missionsstation gewesen. Er hatte über Noah und seinen zweitgeborenen Sohn Ham gesprochen. Noah, der sich bis zur Besinnungslosigkeit betrunken hatte und dann nackt in seinem Zelt lag, wo ihn Ham entdeckte. Aber anstatt seinen Vater zuzudecken, machte er sich über ihn lustig, bis seine Brüder kamen und eine Decke über Noahs Blöße breiteten. Als Noah diese Geschichte hörte, verfluchte er Ham und seine Nachfahren, auf dass sie den anderen Völkern für immer Knechte seien.
    Obwohl Freudenreich auf Deutsch gepredigt hatte, war es mir schwergefallen, seinen Worten zu folgen. Meine Gedanken waren immer wieder abgeschweift und zurück in die Kohlstraße geflogen. Ich wusste ja auch schon, worauf Freudenreich hinaus wollte. Schließlich hatte ich Pfarrer Krupka in der Kohlstraßenkapelle schon über die gleiche Bibelstelle predigen hören.
    Ham war der Stammvater der Hamiten und die Hamiten waren die Schwarzen. Und weil Noah Ham verflucht hatte, waren die Schwarzen heute noch die Diener der deutschen Rasse, sie mussten als Sklaven in Amerika schuften und als Tagelöhner, Dienstboten, Stallburschen und Treiber in den deutschen Schutzgebieten. Ihre erbärmliche Lage war vorbestimmt, wer sich dagegen auflehnte, stellte die göttliche Ordnung infrage.
    Über eine Stunde lang hatte sich Freudenreich darüber ausgelassen, wie glücklich sich die Neger im Allgemeinen und die Hottentotten im Besonderen schätzen konnten, dass ihnen die Weißen nun endlich das Christentum brachten. Die armen Nama, die kein Wort der Predigt verstanden hatten, waren auf den harten Kirchenbänken hin und her gerutscht, so, wie ich in den folgenden Monaten auf der Bank hin und her rutschte, ohne ein Wort zu verstehen.
    Damals hatte ich mir keine Gedanken über die Predigt gemacht. Heute fragte ich mich, wie Gott so etwas zulassen konnte: Dass eine ganze Rasse verflucht wurde, nur weil ihr Stammvater eine Dummheit begangen hatte.
    Ich blickte wieder zu Petrus. Wie müde er aussah. Wie schön er war. Seine Lippen, deren Rot an den Rändern mit dem Braun seiner Haut verschmolz. Seine hohen Wangenknochen, über die sich dunkle Haut schmiegte. Seine seidigen langen Wimpern, zarte Halbmonde aus schwarzer Spitze.
    »Du bist verschossen«, hörte ich Eva spotten.
    »Verliebt.«
    »Verloren.«
    Ja, das war ich.
    Johann kannte Welters Farm, er setzte uns direkt vor dem Tor ab. Kaum dass wir vom Wagen gestiegen waren, gab er dem Treiber ein Zeichen und ließ die Ochsen wieder anziehen. Vielleicht befürchtete er, dass er uns am Hals hätte, falls man uns die Aufnahme verweigerte.
    Wir wanderten noch eine Stunde lang einen schmalen Pfad entlang, bis wir eine Handvoll flacher Gebäude mit Wellblechdächern erreichten. Ein Wohnhaus, ein Stall, eine Art Scheuer, eine Remise, ein zerfallener Schuppen. Vor dem Haus wucherte Unkraut, dazwischen hatte jemand eine Reihe Spinat angebaut, aber die Blätter der Pflanzen lagen welk auf dem Boden. Auf der Wäscheleine im Hof hingen vergilbte Unterröcke und graue Herrenunterhosen.
    Das sollte die Farm sein, auf der Fräulein Hülshoff lebte? Das passte nun wirklich nicht zu der Vorstellung, die ich mir von ihrem neuen Zuhause gemacht hatte. In meiner Fantasie hatte alles ganz anders ausgesehen.
    Ich hatte gewiss kein Schloss erwartet und auch kein herrschaftliches Anwesen. Ein einfaches, schlichtes Haus. Sehr sauber, ordentlich und gepflegt. In meiner Vorstellung hätte bestimmt keine Harke mitten auf dem Hof gelegen, die Zinken nach oben gereckt, sodass man darüber stolpern und sich verletzen konnte. Fensterläden und Zaun wären frisch gestrichen gewesen, der Hof gefegt und statt eines verbeulten Zinkeimers hätte ein Blumentopf mit blühenden Geranien vor dem Haus gestanden. Aber hier sah es nicht aus wie in meiner Fantasie, hier sah es aus wie bei den Haufs auf der Kohlstraße, bei denen der Alte soff und die Frau jedes Jahr ein neues Kind bekam, das dann genauso schwachsinnig war wie seine Geschwister.
    Vielleicht wäre es besser, gar nicht erst anzuklopfen, sondern direkt umzukehren. Aber wohin? Ich kannte ja außer Fräulein Hülshoff keinen Menschen im Namaland.
    Hilfe suchend sah ich Petrus an. Er zuckte

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