Im Land des Roten Ahorns
dass von Piraten keine Spuren geblieben waren. Wenn es hier je einen Stützpunkt gegeben hatte, war er von der Natur zurückerobert worden. Fireweed, verschiedene Gräser und Lupinen überwucherten den Boden, Sitkafichten ragten hoch in den Himmel.
Auf Strawberry Island siedelte auch eine große Kolonie von Kanadagänsen, deren Rufe weit über den Fluss hallten. Jaqueline lauschte ihnen mit geschlossenen Augen und fühlte sich an den Herbst in Hamburg erinnert, wenn die Wildgänse über die Stadt hinweggezogen waren. Der Duft des Fichtenharzes mischte sich mit den Aromen des Wassers und dem Rauchgeruch des Feuers, über dem McGillion Kaffeewasser erhitzte.
»Wir liegen sehr gut in der Zeit«, bemerkte Connor, nachdem er von dem Lastfloß zurückgekehrt war, das er kontrollieren wollte.
Der Kaffee dampfte inzwischen in einer großen Kanne. Es gab dasselbe Mahl wie zuvor: Hartkekse, Bohnen, Trockenfleisch. Jaqueline verstand allmählich, warum die Männer sich danach sehnten, am Ende der Reise, in Montreal, das Leben zu genießen und sich in einem guten Pub verwöhnen zu lassen.
»Wenn das so weitergeht, werden wir vor den Transportwagen dort sein«, eröffnete Connor den Männern, als sie wieder im Feuerschein beisammensaßen.
»Dann können wir ja am Ufer ein Feuer machen und uns ein paar Fische braten«, warf einer der Männer ein, der, wie Jaqueline sich erinnerte, Cody genannt wurde und beim Stämmelaufen ins Wasser gefallen war.
»Willst wohl die Bären anlocken, was?«, entgegnete ein anderer unter dem Gelächter seiner Kameraden.
»Du weißt ganz genau, dass man die Bären nur anlockt, indem ...« Im letzten Moment stockte Cody und blickte verschämt zu Jaqueline.
Verhaltenes Kichern ertönte aus dem Hintergrund, während der Mann, ein baumlanger Kerl mit mächtigen Pranken, errötete.
Jaqueline ahnte, dass ihm etwas vermeintlich Unanständiges auf der Zunge gelegen hatte. »Was meinen Sie denn?«, fragte sie lächelnd. »Sie können ruhig offen sprechen! Ich bin nicht empfindlich.«
»Er meint, dass man Bären anlockt, indem man gegen einen Baum pisst!«, meldete sich ein anderer Mann zu Wort, der kein Problem hatte, einer Frau so etwas zu erzählen.
»Stimmt das wirklich?«, fragte Jaqueline erstaunt.
»Ja, das Zeug macht die Bären aggressiv«, erklärte McGillion, nachdem er dem Mann einen strafenden Blick zugeworfen hatte. »Ist nicht nur ein Mal vorgekommen, dass ein Trapper teuer dafür bezahlt hat, dass er sich erleichtern wollte.«
»Nun, wie mir scheint, lassen sich manche Bären auch durch andere Dinge provozieren.« Jaqueline blickte zu Connor. Der zwinkerte ihr verschwörerisch zu.
»Das klingt ja so, als hätten Sie schon mal mit den Viechern zu tun gehabt, Miss.«
»Und ob ich das hatte! Schon zwei Mal waren Bären hinter mir her.«
»Kein Wunder, bei so einer hübschen Lady!«, rief Cody, worauf er einen Knuff von seinem Nebenmann einstecken musste.
Jaqueline lachte. »Wegen meines Aussehens war der Bär sicher nicht hinter mir her. Mein Vater hat mir früher immer erzählt, dass Bären durch viele Dinge zu reizen sind. Einige springen auf den Geruch von Blut an, andere werden wütend, wenn man in ihr Revier eindringt und ihre Jungen bedroht.«
»Sie scheinen sich ja wirklich auszukennen!«, bemerkte Bradley.
»Nein, nein, ich kenne hauptsächlich die Geschichten meines Vaters. Aber da ich schon mal hier bin, habe ich natürlich vor, so viel wie möglich davon zu überprüfen.«
»Die Sache mit den Bären sollten Sie lieber lassen, Miss Halstenbek. Wär doch schade, wenn einer von denen Sie erwischen würde.«
»Keine Sorge, ich glaube, Bären sind nicht die größte Gefahr in diesem Land. Ich werde mich schon nicht fressen lassen.«
Erneut tauschten Connor und sie vielsagende Blicke aus, bevor sie sich wieder über ihr Essen hermachten.
Nach einer weiteren Tagesfahrt wies Connor seine Leute bereits am Nachmittag an, mit den Flößen das Ufer anzusteuern.
»In diesem Gebiet soll es ziemlich große Hirsche geben«, erklärte er McGillion. »Ein saftiges Steak wäre doch mal eine schöne Abwechslung.«
Die Männer waren begeistert.
Auch Jaqueline war froh über den kleinen Landgang. Sie hatte sich zwar gut an das Schwanken des Floßes gewöhnt, doch sie freute sich zur Abwechslung über festen Boden unter den Füßen. Zudem bot sich nun die Gelegenheit, die Pflanzen, die sie sonst immer vom Fluss aus beobachtete, näher zu betrachten und ein Exemplar für ihr Herbarium
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