Im Land des Roten Ahorns
Himmel in verschiedene Rottöne tauchte. Polarlichter, die über den Nachthimmel huschten. Ach, könnte ich doch nur dort sein!
Quälendes Fernweh breitete sich in ihr aus.
Ich sollte verreisen, dachte Jaqueline. Weit weg von hier, weg von all diesem Ärger und Schmerz.
Als sich eine Hand auf ihre Schulter legte, zuckte sie zusammen. In der Annahme, dass es sich um diesen widerlichen Braun handeln könnte, weiteten sich ihre Augen erschrocken.
Aber es war nur das Gesicht von Martin Petersen, auf dessen Lippen ein verhaltenes Lächeln spielte.
»Das wäre überstanden«, sagte er, worauf Jaqueline verwundert feststellte, dass außer ihm niemand mehr zugegen war.
Den Gedanken an Kanada mussten wohl Zauberkräfte innegewohnt haben.
»Leider sind nicht alle Herren zufrieden«, fügte er hinzu, als eine Entgegnung ihrerseits ausblieb. »Aber ich bin sicher, dass die restlichen Schulden beglichen sind, wenn das Haus erst einmal verkauft wurde. So lange können Sie natürlich noch hierbleiben und über die verbliebenen Möbel verfügen.«
»Danke.« Mehr brachte Jaqueline nicht heraus, denn die Tränen schnürten ihr die Kehle zu. Diesmal weinte sie aber nicht aus Trauer, sondern vor Erleichterung.
»Wenn Sie erlauben, werde ich einen Makler meines Vertrauens mit dem Verkauf beauftragen. Die zerschlagenen Fenster im Erdgeschoss schmälern den Preis natürlich ein wenig, aber er wird die Summe dennoch so hoch treiben, dass Sie die Schulden loswerden.«
Jaqueline war froh, dass Petersen sie nicht mit falschen Versprechen zu trösten versuchte. Die Hoffnung, durch den Verkauf so viel zu erzielen, dass Geld für sie übrig bliebe, wäre illusorisch gewesen.
»Tun Sie, was Sie für richtig halten. Ich verlasse mich voll und ganz auf Sie«, erklärte Jaqueline und reichte ihm die Hand. »Vielen Dank, Herr Petersen, ich wüsste nicht, was ich ohne Sie tun sollte.«
»Sie können immer auf mich zählen, Fräulein Halstenbek. Gibt es noch etwas, womit ich Ihnen behilflich sein kann?«
Jaqueline schüttelte den Kopf. Trauer und Schwermut bedrückten sie so sehr, dass sie sich nur danach sehnte, allein zu sein.
»Wenn es doch etwas geben sollte, melden Sie sich jederzeit bei mir. Ich werde Sie auf dem Laufenden halten, was den Verkauf des Hauses angeht.«
Jaqueline nickte dankbar und begleitete den Anwalt zur Tür.
Kaum war die Eingangstür hinter ihm zugefallen, tauchte Christoph aus der Küche auf. Er sah aus wie ein geprügelter Hund.
»Sie werden nicht mehr lange bleiben können, nicht wahr, Fräulein Halstenbek?« Seine Frage klang eher wie eine verzweifelte Feststellung.
Nach der Versteigerung des Hauses gäbe es für ihn nur zwei Möglichkeiten: Bestenfalls behielt der neue Eigentümer ihn, oder er musste sich eine neue Anstellung suchen.
»Ich fürchte, nur so lange, bis ein neuer Besitzer gefunden ist, Christoph«, flüsterte sie und bemerkte den ungewöhnlich lauten Widerhall ihrer Stimme.
In der Eingangshalle hatten nie sehr viele Möbel gestanden, aber offenbar doch genug, um die Geräusche ein wenig zu dämpfen. Jetzt tickte dort nicht einmal mehr die Standuhr, denn die war als eines der ersten Stücke fortgeschafft worden.
»Sie sollten sich besser so schnell wie möglich um eine neue Anstellung bemühen«, setzte Jaqueline schweren Herzens hinzu.
»Ich könnte darauf hoffen, vom neuen Hausbesitzer übernommen zu werden.«
»Und wenn es jemand ist, den Sie nicht leiden können? Vielleicht sogar Fahrkrog, der in ein besseres Viertel umziehen will? Soweit ich weiß, dürfen auch die Gläubiger mitbieten.«
Der Gedanke, dass Fahrkrog hier einziehen könnte, erschien Jaqueline unerträglich. Den ganzen Tag über war sie stark gewesen, und sie hatte auch jetzt nicht vor zu weinen, doch plötzlich löste sich ihre Anspannung mit aller Macht und füllte ihre Augen mit Tränen.
Laut schluchzend stand sie da, während Christoph hilflos vor ihr stand. Am liebsten hätte er sie in die Arme genommen, aber er kam gar nicht erst in die Versuchung, denn Jaqueline rannte davon.
Ihre Schritte hallten laut durch den Korridor, denn auch für den Teppich hatte sich ein Abnehmer gefunden. Krachend fiel die Tür hinter ihr ins Schloss, nachdem sie in das Arbeitszimmer ihres Vaters gestürmt war.
Während sie sich fahrig die Tränen trocknete, lief sie zum Schreibtisch. Dort lagen noch immer Warwicks Briefe. Die Gläubiger hatten sich nicht dafür interessiert.
Mit zitternden Händen holte sie seinen letzten Brief
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