Im Land des Roten Ahorns
auch die letzten Stücke bald abholen.
»Das ist ein guter Vorschlag. Ich habe allerdings nicht vor, mir eine neue Bleibe in Hamburg zu suchen.«
Petersen zog überrascht die Augenbrauen hoch.
Jaqueline atmete tief durch. Ihr Herz pochte, und in ihrer Magengegend zwickte es. »Ich habe beschlossen auszuwandern.«
»Auswandern?«, presste Petersen hervor, als sei es das Unglaublichste, was ihm je zu Ohren gekommen war.
»Ja, ich möchte das Land kennenlernen, das meinem Vater so viel bedeutet hat: Kanada.«
Der Anwalt starrte Jaqueline sprachlos an. »Eine Ausreise nach Kanada wird aber nicht einfach werden«, erklärte er schließlich, während sein Sekretär den Kaffee servierte.
»Darüber bin ich mir im Klaren.« Jaqueline betrachtete ihr Gesicht im dunklen Spiegel des noch dampfenden Getränks. »Aber viele andere Möglichkeiten bleiben mir nicht. Noch in dieser Woche muss ich das Haus verlassen. Mehr als ein Koffer mit Kleidung und einige Andenken, die nur für mich wertvoll sind, sind mir nicht geblieben. Außerdem hat einer der Gläubiger einen persönlichen Hass auf mich entwickelt, sodass ich in Hamburg nicht mehr sicher bin.«
Petersen seufzte tief und lehnte sich zurück. »Und woher wollen Sie das Geld für die Überfahrt nehmen? Soweit mir bekannt ist, kostet eine Überfahrt auf einem der neuen Dampfschiffe zwischen hundertdreißig und dreihundert Mark.«
Jaqueline presste die Lippen zusammen. Um ein Haar hätte sie verraten, dass sie eine Brosche versetzt hatte. Doch gegen den Geheimhaltungswunsch ihres Vaters wollte sie nicht verstoßen.
»Ich habe einem Freund meines Vaters von meiner Lage und meinen Ausreiseplänen berichtet und hoffe, dass er mir helfen wird.«
Der Blick des Anwalts wurde skeptisch. »Sind Sie sicher, dass er das tun wird? Ich habe schon oft erlebt, dass selbst gute Freunde sich von Personen abgewandt haben, die in Schwierigkeiten waren.«
»Mr Warwick wird das ganz sicher nicht tun!«, erklärte Jaqueline entschlossen. »Er hat mir seine Hilfe angeboten.« Wenn auch keine finanzielle, denn von unserem Schuldenberg habe ich ihm nie geschrieben, fügte sie in Gedanken an.
Petersens skeptischer Gesichtsausdruck verriet Jaqueline, dass er ihr nicht zutraute, allein auszureisen.
»Selbst wenn Sie die Reisekosten aufbringen, gibt es noch ein zweites Problem«, fuhr der Anwalt schließlich fort.
»Und das wäre?«
»Sie brauchen Papiere. Außerdem können Sie nicht einfach von heute auf morgen das Land verlassen. Oftmals warten Ausreisewillige mehrere Wochen, bis ihr Schiff ablegt. Das bedeutet, dass Sie wochenlang in einer der Wartehallen ausharren müssten.«
Hält er mich vielleicht für ein verweichlichtes Zuckerpüppchen?, fragte sich Jaqueline, bemüht, ihren Groll zu überspielen, indem sie die Tasse an die Lippen hob und einen Schluck trank.
Der Kaffee schmeckte bitter und trieb ihren Puls noch weiter in die Höhe.
»Ich habe keine andere Wahl«, erklärte sie achselzuckend.
Der Anwalt beugte sich vor und faltete die Hände über dem Dokument, das auf der Tischplatte lag. »Es ist Ihnen wirklich ernst, nicht wahr?«
Jaqueline straffte die Schultern. »In Kanada hat mein Vater seine Karriere begonnen. Seine erste Karte zeigt die kanadische Ostküste. Ich bin sicher, dass ich dort ebenfalls mein Glück finden werde.«
»Für eine Frau könnte es ungleich schwerer werden«, wandte der Anwalt ein. »Soweit ich weiß, reisen dorthin nur Frauen aus, die entweder ihren Ehemännern folgen oder auf die drüben ein Ehemann wartet.«
»Auf mich wartet Mr Warwick!«, platzte es aus Jaqueline heraus.
Als sie bemerkte, dass es sich so anhörte, als mache sie sich Hoffnungen auf eine Heirat, errötete sie und schob verlegen die Tasse auf dem Tisch hin und her.
»Offenbar kann man diesem Mann nur gratulieren«, sagte Petersen schließlich mit einem hintergründigen Lächeln.
Jaqueline wollte schon protestieren, aber eine innere Stimme raunte ihr zu: Gib es ruhig zu, insgeheim hoffst du doch darauf, dass dieser Mann die Liebe deines Lebens wird! Also schwieg sie.
Glücklicherweise wechselte Petersen taktvoll das Thema, als er merkte, dass es seiner Mandantin unangenehm war, von ihrem Bekannten zu sprechen.
»Was die nötigen Unterlagen für Ihre Ausreise betrifft, so könnte ich mich darum kümmern«, bot er an. »Vorausgesetzt, Sie möchten das.«
»Aber ich kann Ihnen nichts dafür bezahlen ...«
»Keine Sorge, es wird mich schon nicht arm machen, wenn ich Ihnen
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