Im Land des Silberfarns: Roman (German Edition)
seine eigene Naivität, während er langsam zu seinem Lagerplatz der letzten Nacht zurückhumpelte. Ein Mädchen wie Sarah war natürlich schnell zu beeindrucken und zu überreden – sie hatte ja noch keine Lebenserfahrung in der Welt außerhalb dieser Bucht und des Schutzes ihres Stammes.
Als Gregory vor seiner Schaluppe stand, kamen ihm weitere Flüche über die Lippen. Mit seinem verkrüppelten Bein war es eine wahre Herkulesaufgabe, das kleine Boot wieder zurück in das Wasser zu schieben. Die Navigation in den Norden traute er sich problemlos zu – er war lange genug an Bord der Mercury gewesen, um das Handwerk der Seefahrerei inzwischen sicher zu beherrschen. Aber beim Versuch, die Schaluppe zu bewegen, musste er einsehen, dass er auf die Flut warten musste – und die würde erst am frühen Nachmittag einsetzen. Ohne die Hilfe des Wassers reichte seine Kraft nicht aus.
Er ließ sich in den Sand fallen und starrte wütend auf den Horizont. Warum nur hatte er diesem nichtsnutzigen Soldaten vertraut? Zumindest würde er ihn sicher einholen – die Strecke am Strand entlang dauerte Wochen, wenn nicht gar Monate. Er konnte jetzt nur ein kurzes Stoßgebet sprechen, dass Sarah nichts passierte. Egal, was Jameson für eine unversehrte Jungfrau zahlte – Mick war doch nur ein Kerl, den während der Nächte auch männliche Gelüste heimsuchten …
Es schien ihm eine Ewigkeit, bis die Flut einsetzte und das Wasser rasch näher kam. Endlich leckte es am Holz seiner kleinen Schaluppe. Gregory stemmte sich mit aller Macht gegen den Bug, um das Boot ins Meer zu schieben. Zentimeter um Zentimeter gab es nach – und mit einer großen Welle war es mit einem Schlag wieder im Wasser. Gregory zog sich über die Bordwand und ließ sich ins Innere plumpsen. Der Schweiß lief ihm in Strömen übers Gesicht und seinen Rücken hinunter.
Schnell und geschickt setzte er das Segel und lenkte das Boot hinaus auf die offene See und dann am Ufer entlang nach Norden – die Strecke, die er erst vor zwei Tagen in die entgegengesetzte Richtung gesegelt war. Unablässig sah er dabei auf die Küste, aber er konnte kein Zeichen von zwei Wanderern in Richtung Kororareka entdecken. Am späten Nachmittag musste er sich eingestehen, dass er Sarah und Mick wohl nicht mehr einholen würde. Vorsichtig lenkte er sein Boot in Ufernähe und warf den Anker – er hatte keine Lust, am nächsten Morgen wieder auf die Flut warten zu müssen.
Das sanfte Wiegen des Bootes ließ ihn schnell einschlafen. Um Mitternacht wachte er auf und betrachtete lange den hellen Mond über dem Horizont. Hoffentlich war Sarah wohlauf. Er machte sich wirklich Sorgen um dieses ungebändigte Mädchen, das sich so perfekt mit dem Überleben in der Wildnis auskannte – und so wenig Ahnung von den Ränken der Weißen hatte.
Irgendwann musste er wohl eingeschlafen sein, denn als er die Augen wieder öffnete, stand die Sonne schon über dem Horizont. Mit einem leisen Fluch richtete er sich auf – er hatte gehofft, noch in der Dämmerung wieder Segel setzen zu können. Nur wenig später blähten sie sich über seinem Kopf, und er war wieder unterwegs.
Am Nachmittag fingen seine Augen an zu tränen. Das beständige Starren über die glitzernde Wasserfläche an den weißen Strand, immer in der Hoffnung, zwei Gestalten zu sehen, hatte sie ermüdet. Gregory wollte schon aufgeben, als er plötzlich eine kleine Rauchfahne sah. Sie war so schwach, dass er mehrmals blinzeln musste, um sich sicher zu sein – dann riss er sein Ruder herum und hielt einfach auf den Sandstrand in der Mitte der Bucht zu. Für sein Gefühl dauerte es eine Ewigkeit, bis der Bug am Strand auflief. Er nahm sich kaum die Zeit, die kleine Schaluppe ordentlich zu sichern, sondern sprang über die Bordwand und hinkte, so schnell es ging, in Richtung des kleinen Feuers hinter den Bäumen.
Hinter der letzten Baumreihe konnte er eine Gestalt sehen – und hielt inne. Es war Sarah, wie er an den roten Strähnen, die ihr über den Rücken fielen, ohne Probleme erkennen konnte. Sie saß am Feuer, stocherte in der Glut und schlang dann beide Arme fest um ihren Oberkörper. So sah sie wie ein komplett verlorener, einsamer Mensch ohne jede Hoffnung aus. Gregory räusperte sich lautstark, bevor er aus dem Schutz des Buschwerks trat.
Sie fuhr erschrocken herum und wollte schon aufspringen, die Hand am Messer, das sie griffbereit in ihrem Gürtel trug. Einen Augenblick lang sah es so aus, als ob sie ihm an die Kehle
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