Im Land des Silberfarns: Roman (German Edition)
gelebt und gearbeitet. Ich brauchte ein wenig feste Heimat, einen Hort, an dem ich zur Ruhe kommen konnte. Und den hatte ich auf dieser Farm gefunden. Dann kam Master Wilcox zu Besuch. Er hatte gehört, dass der Züchter ein paar seiner Schafe abgeben würde, und wollte sich die Tiere ansehen. Ich habe sie ihm gezeigt, wir haben uns unterhalten, und er hat mir erzählt, dass er nach einer Hilfe sucht. Zu meinem Glück hat Master Wilcox wenig Bedenken gehabt, einen Krüppel anzustellen – und so bin ich hier.«
Anne musterte ihn. Er hatte seine Geschichte mit dem treuherzigsten Gesicht der Welt vorgetragen, aber sie wollte ihm nicht recht glauben. Der Zufall, dass ausgerechnet Gregory hier in dieser Bucht landete, war dann doch etwas zu groß. Sie nahm sich vor, ihn irgendwann einmal unter vier Augen zu sprechen – etwas, das hier ohnehin unvermeidlich war. Bis dahin musste sie sich mit unverfänglicheren Fragen begnügen.
»Und wo habt Ihr Euer Bein so heftig verletzt?«, fragte sie deswegen.
»Ein Kampf mit einem Mann, dessen Messer so dreckig wie seine Seele verkommen war. Er musste für das Unrecht, das er einem Menschen zugefügt hatte, bezahlen. Leider hat er mich etwas gekratzt, und mich hätte diese Unachtsamkeit fast das Leben gekostet. Immerhin eine gute Methode, um dem Dasein als Soldat den Rücken zu kehren …« Wahrscheinlich hatte Gregory es nicht bemerkt – doch während er redete, strich er unablässig mit der Hand über seinen Oberschenkel. Vermutlich hatte ihn der Verlust seiner Kraft doch tiefer getroffen, als er es sich zugeben wollte.
»Ihr wart Soldat?«
»Meine Eltern haben meine Pläne, die Welt zu bereisen, nicht unbedingt unterstützt – also musste ich mir eine andere Möglichkeit suchen. Das Soldatenleben ist dafür ein besserer Weg, als einfach als Schiffsjunge anzuheuern.«
Anne nickte nur und ging ins Innere, um nach dem Essen zu sehen, das schon fast fertig war. Noch ein paar Kräuter hinein – und sie konnte jedem der Männer eine Schale voll von ihrem Kumara-Muschel-Eintopf bringen.
Während Anne die kleine Charlotte fütterte, unterhielten sich die Männer über die Arbeiten, die sie gemeinsam angehen wollten. Roden, der Bau eines stabilen Pferchs für die sechs Schafe, sich darum kümmern, dass der Bock alle Schafe deckte, damit im Frühjahr Nachwuchs kam – und vor allem: ein kleines Haus für Gregory zu zimmern, der natürlich nicht auf Dauer beim Ehepaar Wilcox in der Küche schlafen konnte und wollte. Auch wenn das die Lösung für den Anfang sein sollte.
Irgendwann brachte Anne ihr Kind ins Bett. Als sie etwas später auf die Veranda kam, unterhielten sich die beiden Männer angeregt über die Tücken des Meeres, die Seefahrerei und die schönsten Häfen. Anne zog sich schon bald zurück – leise vor sich hin lachend. Ausgerechnet diese beiden Männer, die das Leben auf dem Meer offenbar so sehr geliebt hatten, wollten jetzt als Schafzüchter arbeiten? Sie war mehr als gespannt, wie sich das entwickelte.
Sie ging noch kurz zu Charlottes Korb, zog ihre Decke hoch und sah das kleine Mädchen nachdenklich an. Sie wusste nichts von dem Gefühlsaufruhr, der bei ihrer Mutter herrschte. David hatte sich liebevoll um die Kleine gekümmert und stellte keinen Augenblick infrage, ob sie nun wirklich von seinem Blut war oder nicht. Er hatte es schlicht nicht verdient, dass sie auch nur eine Sekunde über Gregory nachdachte. Und bei dem war sie sich nicht sicher, was er hier überhaupt zu suchen hatte. Vielleicht war es ja doch nur einer dieser großen, wahnsinnigen Zufälle, die das Leben hin und wieder bereithielt.
Sie schüttelte noch einmal den Kopf und ging in ihr Bett. Die Stimmen der Männer auf der Veranda konnte sie noch lange hören – und ihre Gedanken sorgten dafür, dass sie noch lange keine Ruhe fand.
MARLBOROUGH, 1833
32.
»Was hat dich wirklich hierher gebracht?« Anne sah auf den Rücken von Gregory, der gerade am Waldrand stand und einen Baum fällte. Anne brachte ihm eigentlich nur etwas zu trinken von der kleinen Quelle, die etwas oberhalb des Grundstücks entsprang. Aber mit dem Wasserbecher in der Hand fand sie sich das erste Mal allein mit Gregory – und diese Chance wollte sie nutzen.
Gregory hielt für einen Moment inne, dann drehte er sich langsam um und legte seine Axt weg. Er nahm ihr den Becher aus der Hand, trank einen langen Schluck, wischte sich einen Tropfen von der Lippe und sah sie nachdenklich an.
»Das weißt du nicht?«
Anne
Weitere Kostenlose Bücher