Im Land des Silberfarns: Roman (German Edition)
Überfahrt hatte fast drei Wochen länger gedauert, als ursprünglich geplant war. Aber jetzt: der Süden von Afrika. Schon ein paar Tage lang hatten sie das Land in Sichtweite. Anfangs ein gelber Streifen, nichts als dürre Wüste. Jetzt wurde es allmählich grüner, es war nicht mehr weit zum Kap der Guten Hoffnung. In Kapstadt sollte die HMS Mercury anlegen und schon allein durch ihre Präsenz deutlich machen, dass die Krone sich nicht von irgendwelchen aufständischen Einheimischen erpressen lassen würde. Wenn Gregory seine Mannschaftskameraden richtig verstanden hatte, dann würden sie nach dem Anlegen erst einmal ein Weilchen bleiben, hin und wieder vor der Küste auf und ab segeln – aber eigentlich nur ein bisschen »Flagge zeigen«. Das klang immerhin relativ ungefährlich.
Hoheitsvoll glitt die HMS Mercury unter vollen Segeln in die malerische Bucht von Kapstadt. Mit weiten Augen bestaunte Gregory den Berg, der über der Stadt wachte und aussah, als hätten Riesen seinen Gipfel abgeschlagen und glatt geschliffen, um einen Tisch für ihre Familienfeiern zu haben. Wolken hingen wie ein gigantisches Tischtuch an seinem Gipfelplateau. Der Tafelberg gehörte für ihn zu den wunderbarsten Dingen, die er je gesehen hatte. Gemeinsam mit einem anderen Offiziersanwärter sah er sich die ganze Stadt an, freute sich über die klare und frische Luft, die beständig wehte – und genoss das reichliche frische Essen. Er kam zu Kräften und fühlte sich nach wenigen Tagen wieder wohl in seiner Haut. So machte die Sache mit der Royal Navy wirklich Spaß.
Diese Freude am Beobachten der fremdartigen Menschen, an der Landschaft und am Essen verließ ihn im Lauf der nächsten Wochen. Zu seinem Entsetzen machte niemand auch nur Anstalten weiterzusegeln. Alle hielten sich bereit für den Moment, an dem der Krieg der Schwarzen mit den Buren tatsächlich ausbrach. Aber solange es sich nur um vereinzelte Scharmützel und ab und zu einen Anschlag auf das Haus eines Siedlers handelte, konnte die Armee auch nicht eingreifen. Sie mussten abwarten und genossen die Stadt, bis wirklich jeder der Bars und Kaschemmen überdrüssig wurde.
Gregory konnte seine Unruhe mit jedem Tag schlechter verbergen. Das südliche Afrika war wunderschön – aber er wollte weiter nach Neuseeland. Vorsichtig stellte er sich eines Abends neben seinen Kapitän, der in diesem Augenblick mit nachdenklicher Miene die betriebsame Menge im Hafen begutachtete. »Sir, wie lange bleiben wir noch hier?«, fragte er möglichst beiläufig.
Ein Schulterzucken war die Antwort. »Wieso fragt Ihr? Es gibt doch wahrlich schlechtere Orte, um den Rest des Jahres zu verbringen. Und das ist es wohl, was wir tun. Seid Ihr so versessen auf einen Krieg oder einen weiteren Sturm auf hoher See? Gemach, junger Mann. Ihr müsst erst noch lernen, dass man diese ruhigen Stunden und Tage in der Navy genießen muss. Wir haben Frieden – und damit einen der schönsten Berufe der Welt. Das könnt Ihr mir glauben.«
»Aber wenn wir doch wieder in See stechen«, beharrte er. »Wohin würde es dann gehen?«
»Das kommt darauf an«, erklärte der alte Kapitän mit einem Schulterzucken. »Es kann sein, dass mich die Order erreicht, dass wir zurück nach England müssen. Oder dass wir weiter nach Indien oder gar Australien segeln. Das werden wir abwarten müssen.« Er sah Gregory aus seinen kleinen schwarzen Augen lauernd an. »Was wäre Euch denn lieber, mein Sohn?«
»Eigentlich ist es mir egal«, bemühte sich Gregory um einen möglichst lockeren Ton. »Aber ich habe wahre Wunderdinge von Indien gehört. Und Australien – es soll Tiere geben, die ihre Jungen in einem Beutel durch die Wüste tragen!«
»Ihr werdet alles noch sehen. Wenn Ihr nur lange genug bei der Navy bleibt, dann werdet Ihr irgendwann in jedem Hafen die beste Ankerstelle kennen, ohne auch nur eine Sekunde nachzudenken, glaubt mir. Aber es ist immer etwas Besonderes, wenn es wieder nach Hause geht …« Das wettergegerbte Gesicht des Kapitäns hatte bei diesen Worten tatsächlich etwas Sehnsüchtiges. Gregory seufzte. Es würde also noch länger dauern, bis er auch nur in die Nähe seiner Anne käme. Womöglich hatte sein Vater recht, und er würde ihr nur zu den zahlreichen Kindern gratulieren können …
Es sollte noch ein Monat vergehen, bis eines Morgens ein weiteres Schiff der Royal Navy unter vollen Segeln in den geschützten Hafen von Kapstadt einfuhr. Der Kapitän sah dem anderen Schiff mit seinem
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