Im Land des Silberfarns: Roman (German Edition)
aufzugeben. Ächzend kippte es um, der Mast tauchte in die tobende See ein.
Anne ließ den Haken fahren, griff nach einem Tau und wandte sich zu David um. Der Schwarzhaarige glitt über Bord, David kämpfte gegen das Tau um seinen Hals. Anne kletterte mühsam zu ihm hinüber und nestelte mit fliegenden Fingern an dem Knoten, den die Seeleute in das Tau um seinen Hals gemacht hatten. Zu ihrem Glück ein echter Seemannsknoten, der sich leicht löste, wenn man nur am richtigen Ende zog. David griff sich an den Hals, um sich von seiner Freiheit zu überzeugen. Dann sah er sich um.
»Das Schiff ist verloren«, murmelte er. »Diese entsetzlichen Idioten, was haben die nur angerichtet?«
Entschlossen griff er Anne an die Schultern. »Ich gehe in unsere Kajüte und hole ein paar wichtige Dinge. Du wartest hier!«
Damit drehte er sich um und kletterte mühsam über das fast senkrecht stehende Deck zu der Tür, die in ihre Kajüte führte. Anne wusste, was er mit den »wichtigen Dingen« meinte: sein gesamtes Vermögen, das er für seine Flotte erhalten hatte. Ein kleiner Beutel, randvoll mit Goldstücken, ihre Versicherung auf eine gute Zukunft. Anne griff an ihren Hals. Der Anhänger ihrer Mutter war noch an seinem Platz, sie hatte sonst nichts von Wert.
Mit dem nächsten Brecher erzitterte das Schiff und verschob sich ein wenig. Sicher waren sie hier noch lange nicht. Anne sah sich um. Die meisten Matrosen konnten nicht schwimmen, deswegen klammerten sie sich an die Taue und die Reling und starrten mit weit aufgerissenen Augen in die tobende See. Einige von ihnen bewegten ihre Lippen, murmelten offensichtlich ein Vaterunser nach dem anderen. Oder sie riefen nach ihrer Mutter. Aber das war Anne in diesem Augenblick egal. Sie hatten sich das Unglück, in dem sie jetzt steckten, wahrlich selbst eingebrockt.
Ein Blick an das nahe Ufer zeigte ihr, dass sich dort inzwischen ein kompletter Maoristamm versammelt hatte. Die Wilden beobachteten genau, wie die Weißen um ihr Leben kämpften – aber sie rührten keinen Finger, als sich die ersten Gestalten durch die Brandung kämpften und sich auf das feste Land retteten. Einige der Männer, die über Bord gegangen waren, konnten wohl doch schwimmen. Zu ihrem Entsetzen erkannte Anne den Schwarzhaarigen, der sich schnell erhob und zu einem gedrungenen, etwas abseits stehenden Mann ging. Machte er Stimmung beim Anführer? War das dieser geheimnisvolle Oao… – wie auch immer er heißen mochte. Anne ballte ihre Faust. Sie hatte sich einen Zipfel vom Glück verdient, den würde sie jetzt nicht so einfach wieder loslassen. Sie sah über ihre Schulter zur Kajüte. Nichts von David. Brauchte er womöglich Hilfe?
Entschlossen kletterte sie dem Weg hinterher, den er zuvor gewählt hatte. Zum Glück war das Deck von einem wahren Gewirr an nassen Tauen bedeckt, es kostete nicht allzu viel Mühe, nach oben zu klettern. Nur wenige Atemzüge später sah sie in den Gang hinein, der zu ihrer Kajüte führte. Alles triefte und tropfte – aber es sah nicht so aus, als ob es lebensgefährlich wäre hineinzuklettern. Anne raffte ihre nassen Röcke und schob sich seitwärts in den Gang hinein. Dann krabbelte sie auf der Wand nach hinten. Aus der Kajüte drangen leise Flüche. »Ich komme!«, rief sie. »Brauchst du Hilfe?«
Ein Stöhnen drang aus der Tür. »Ja. Auf unseren Schiffskoffer ist ein Balken gefallen, ich kann ihn nicht öffnen.«
Anne sah durch die Türöffnung und erkannte das Problem. Der große Schiffskoffer ruhte verkeilt in einer Ecke. Ein Stück Holz lag darüber. David zerrte daran herum, um an die Klappe des Koffers zu kommen.
»So schaffen wir das nicht«, stellte Anne fest. Sie griff in ihr Haar und zog eine Nadel heraus, die ihre Locken im Nacken zu einem lockeren Knoten gehalten hatte. Ohne lange nachzudenken, setzte Anne diese Nadel an der Seite des Schiffskoffers an. Der war mit schwerem, geöltem Leinen bespannt. Sie konnte nur hoffen, dass das Ding schon etwas altersschwach war – und das Leinen im Moment unter viel Spannung stand. Sie ritzte mit der Nadel über das Leinen. Einmal, zweimal, dreimal. Kein Erfolg.
Anne unterdrückte einen Fluch und setzte ein letztes Mal die Nadel mit voller Kraft an. Ein leises Ratschen belohnte ihre Mühe. Mit einem Mal öffnete sich ein kleiner Riss, der sich unter dem Zug innerhalb von Sekunden zu einer breiten Lücke vergrößerte. David griff hinein und fischte mit triumphierender Miene den Beutel heraus, den er sich sofort
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