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Im Leben wird dir nichts geschenkt.

Im Leben wird dir nichts geschenkt.

Titel: Im Leben wird dir nichts geschenkt. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Nielsen
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Kinder – worüber beklagte ich mich eigentlich? Schließlich fand ich einen Weg, mit meinem Unglück fertigzuwerden.
    Gewöhnlich tranken wir zum Abendessen ein, zwei Glas Wein. Wein entspannte mich, und ich trank ihn gern. Und bei irgendwelchen Vernissagen oder Dinner-Partys gab es immer Cocktails. Doch im Lauf dieser Jahre stieg mein Alkoholkonsum im gleichen Maße wie der Druck von der Arbeit und meinen Schuldgefühlen als Mutter. Lange Zeit konnte ich meine Trinkgewohnheiten als selbstverständlichen Teil unserer europäischen Kultur entschuldigen, doch es ist schwer, genau zu sagen, an welchem Punkt man zum Alkoholiker wird. Möglicherweise erkennt man erst nach Jahren, dass man ein Problem hat. Aus einem Glas Wein wurden zwei oder drei; aus einem Cocktail zwei. Es war ein ganz allmählicher Prozess. Und er schien mir gut zu tun. Ich war wütend, wütend darüber, dass Raoul und ich auch nur im selben Haus lebten. Ein Arzt hätte mir vielleicht ein besseres Medikament für meine Frustration verschreiben können, doch ich fand Zuflucht im Alkohol.
    Inzwischen habe ich von anderen Alkoholikern und Menschen, die mit ihnen zusammenleben, gehört, dass es nicht ungewöhnlich ist, wenn zwischen einem Glas und einer Flasche Wein zum Abendessen Jahre liegen. Wenn Sie also einen Teenager haben, der an einem Wochenende mit Freunden mehrere Flaschen trinkt, sollten die Alarmglocken schrillen: Das ist nicht in Ordnung, erkennen Sie die Zeichen möglichst früh. Zwischen dreißig und vierzig ein Alkoholproblem zu entwickeln ist eher die Ausnahme als die Regel. Bis dahin war ich ziemlich gesund gewesen und hatte stets auf meine Ernährung geachtet, sowohl in Bezug auf Essen als auch Trinken. Doch oft lauert der Teufel hinter der nächsten Ecke. Ich sagte mir, ein Alkoholiker sei ein Mensch, der morgens mit zitternden Gliedern aufwacht und erst normal funktioniert, wenn er den ersten Drink intus hat, und der dann so lange weitersäuft, bis er am Abend ins Delirium fällt. So war ich nicht.
    Ich hielt es von einer Woche bis zu einem ganzen Monat ohne einen einzigen Schluck aus, doch wenn ich dann zur Flasche griff, dann richtig. Als ich viele Jahre später mit dem Entzug anfing, erfuhr ich, dass Sauftouren richtig gefährlich sind. Der klassische Alkoholiker ist vielleicht jemand, der jeden Tag trinkt, aber bei einer ganzen neuen Generation lauert die Gefahr in den Besäufnissen am Wochenende. In Europa ist Alkoholismus immer noch ein Tabu. Jeder trinkt, doch wenige geben offen zu, Alkoholiker zu sein.
    Ich entwickelte mein eigenes System. Zuweilen dauerte es zwei Monate, bis ich mich auf ein Glas Wein nach der Arbeit mit einem Freund oder einer Freundin traf und wir am Ende eine Flasche ausgetrunken hatten. Und dann eine zweite Flasche. Danach wurde mir schlecht, und ich rührte einige Wochen lang nichts an.
    Bei der Arbeit war ich ganz Profi. Ich trank nie – sonst hätte ich mir auch nicht meinen Text merken können, da kannte ich keinen Spaß. Doch kaum hatte ich die Studiotür hinter mir geschlossen, war ich bereit, einen draufzumachen. Wie für viele Alkoholiker gab es für mich immer irgendeinen Anlass, etwas zu feiern oder mit einem Drink zu würdigen. Besondere Anlässe zu begießen, ist in unserer Gesellschaft vollkommen akzeptabel, und das macht es für den Alkoholiker, der nur nach einer Entschuldigung sucht, so gefährlich. Ich wurde so traurig, und mein Problem war der Alkohol. Er war die Antwort auf alle meine Sorgen. So wie meine Beziehung mit Raoul in die Brüche ging, war er immer da, um mich zu trösten. Es hätte vielleicht später kommen können oder auch nie passieren müssen, doch ich gab einfach auf.
    Es ist besonders entwürdigend, wenn eine Frau – eine Mutter – mitten am Nachmittag auf dem Sofa herumlungert. Sie ist nicht wirklich betrunken, aber kurz davor, und sie hat nicht die Kraft, irgendetwas zu tun. Ich war immer die emsige Biene gewesen, nicht zu bremsen, voller Energie. Ich weiß bis heute nicht, wie ich mir das antun konnte. Wenn ich sagen würde, ich sei eine Couch-Potato geworden, wäre das stark untertrieben – ich war eine Sklavin meines Unglücks.
    Ich hatte nicht mehr die Kraft, mich zu irgendetwas aufzuraffen, und dadurch fühlte ich mich nur umso schlimmer. Ich war schwach, und mein Mangel an Motivation war mir peinlich. Der Grad an Erschöpfung, den ich erlebte, spottet jeder Beschreibung. Er machte mir geradezu Angst, so als sei es bereits ein solcher Kraftakt aufzustehen,

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