Im Licht der roten Erde
Aborigines denken, die sogenannten
blacktracker,
die einen Fußabdruck »lesen« und daraus auf die Physiognomie der Person schließen konnten, die ihn hinterlassen hatte, außerdem auf den Zeitpunkt und sogar auf die psychische und emotionale Verfassung des Betreffenden.
Wenn jemand bemerkt hatte, dass Andrew aus Susans Zelt gekrabbelt war, so ließ er es sich nicht anmerken, als sie vom Lager der Barradja zurückkehrte. Die Gruppe kauerte um das Lagerfeuer herum und frühstückte. Der Kunstdiebstahl und Rowenas Anteil daran, der mittlerweile bekannt geworden war, war das einzige Gesprächsthema.
Mick schüttete Milch auf sein Müsli. »Ardjani wird heute den
law stick
herausholen müssen, so viel steht fest. Rowena hat vermutlich die ganze Zeit damit hinterm Berg gehalten. Sie ist hergekommen, um die Kultur der Barradja auszubeuten, und jetzt bittet sie sie um Hilfe.«
»Ardjani ist sehr weise, was solche Dinge anbelangt, er ist die beste Hilfe, die sie sich wünschen kann«, sagte Beth. »Als Rowena gestern Nacht versucht hat, ihm von irgendeinem europäischen Grafen zu erzählen, der hinter dem Diebstahl steckt, war sie zu hysterisch, um sich verständlich auszudrücken. Ardjani hat Jennifer gebeten, sie ins Bett zu bringen, und gesagt, er würde sie heute anhören, wenn sie sich beruhigt hätte. Jetzt ist sie nicht mehr in ihrem Zimmer, und keiner hat sie heute Morgen gesehen.«
Shareen wandte sich mit zusammengepressten Lippen ab. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie diese weißen Leute ihre Probleme vor einem Haufen alter Aborigines erörtern und dabei annehmen konnten, dieser Ardjani könne sie für sie lösen. Nein, das hatte nichts mit ihr und ihren Vorstellungen zu tun. Sie hatte immer für sich selbst einstehen müssen – vor ihrer elenden Ehe und nach ihrer Scheidung. Niemand hatte ihr je geholfen, und daran erinnerte sie ihre beiden Söhne stets, wenn sie sie mal wieder um Geld baten.
»Sie sehen aus, als wären Sie in Gedanken meilenweit entfernt. Woran denken Sie gerade?«, fragte Susan.
»An meine Kinder«, antwortete Shareen.
»Vermissen Sie sie?«
»Nicht wirklich. Ich meine … deswegen denke ich ja an sie …« Sie verzog das Gesicht, und Susan ließ schnell das Thema fallen.
Am späten Vormittag gab es immer noch kein Zeichen von Rowena. Susan und Andrew hatten sich in ein Spiel mit den Jungen verwickeln lassen und rannten zum Flussufer und wieder zurück, wobei Rusty den Starter und Schiedsrichter gab.
Billy verteilte die Teller und Besteck, als sich der Rest der Gruppe und die Ältesten zum Mittagessen versammelten. Andrew und Susan gesellten sich zu ihnen und machten Platz für Luke und Joshua, die sich neben sie setzen sollten. Shareen zögerte und wartete, dass sie einen Platz am Tisch fand, der ihr genehm war, wie sie es immer tat. Schließlich setzte sie sich neben Lilian. Als sie sah, dass Luke sie mit großen, ernsten Augen anblickte, lächelte sie ihn kurz an und fragte dann, als sie die Narben auf seinen Beinen bemerkte, beiläufig: »Was ist denn mit deinen Beinen passiert?«
»Die Weißen haben auf dem Schulweg ihre Hunde auf mich gehetzt. Ich war damals noch sehr klein.«
Shareen zuckte zusammen und wünschte, sie hätte nicht gefragt. Beth, die das Gespräch mit angehört hatte, sagte ruhig: »Ja, vier weiße Männer haben ihre Hunde auf die Kleinen gehetzt, um es ›den schwarzen Bastarden‹ zu zeigen. Ziemlich erbärmlich, große Straßenköter auf ein paar Schulkinder loszulassen, und zwar aus keinem anderen Grund als aus Rassenhass. Die Weißen waren betrunken, aber das ist keine Entschuldigung.«
»Alkohol fördert das Schlechteste im Menschen zutage«, erwiderte Shareen matt. »Mein Vater hat getrunken.«
Lilian überraschte Shareen mit ihrer mitfühlenden Antwort. »Ich weiß, wie das ist. Der Alkohol lässt die Männer durchdrehen.« Sie klopfte Shareen sacht auf die Schulter. »Deswegen erlauben wir hier keinen
grog.
« Die Blicke der beiden Frauen begegneten sich. Für den Bruchteil einer Sekunde waren sie in ihrer Erfahrung vereint, dann stand Shareen auf und entschuldigte sich, um, wie sie sagte, etwas aus ihrem Zelt zu holen.
Am frühen Nachmittag kamen Barwon und Rusty herübergeschlendert, Digger, der ein Gewehr bei sich trug, folgte ihnen.
»Wozu die Waffe?«, erkundigte sich Veronica.
»Wir gehen auf die Jagd, um
tucker
zu besorgen«, erklärte Digger und tätschelte die alte, aber gut in Schuss gehaltene Zweiundzwanziger.
»Wo
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