Im Licht der Sonne: Roman (German Edition)
Sie schraubte die Flasche auf.
»Ich bin Schriftsteller«, setzte er an. »Und ich habe Ihre Lebensgeschichte verfolgt. Doch zuallererst möchte ich Ihnen sagen, wie sehr ich Sie bewundere.«
»Tun Sie das, Mr Harding?«
»Ja. Ja, allerdings.« Irgendetwas wollte von seinem Magen in seine Kehle hinaufkriechen. Doch er drängte es gewaltsam wieder zurück. »Ursprünglich hat mich diese Story, die ich für eine Zeitschrift schreiben sollte, nicht sonderlich interessiert. Aber nachdem ich mehr über Sie in Erfahrung gebracht habe, ist mir das Ausmaß dessen klar geworden, was Sie durchgemacht haben, was Sie getan haben. Und das ist eine Geschichte, die unheimlich viele Menschen interessieren wird. Ich bin sicher, Sie wissen, wie viele Frauen in dem Teufelskreis der Gewalt gefangen sind«, fuhr er fort, als sie den Balsam auf ihre Finger tupfte. »Sie sind ein wahrer Leitstern, Mrs Todd, ein Symbol der Auflehnung und des Sieges.«
»Nein, das bin ich nicht, Mr Harding.«
»Und ob Sie das sind.« Er blickte ihr tief in die Augen. Sie sind so blau, dachte er. So ruhig. Die Verkrampfung in seinem Bauch löste sich wieder ein wenig. »Ich bin Ihrer Spur quer durchs Land gefolgt.« Ihre Augen flackerten kurz, dann strichen ihre Finger behutsam über seine verbrannte Wange. »Ich habe mit den Leuten gesprochen, mit denen Sie gearbeitet haben, bin sozusagen in Ihre Fußstapfen getreten. Ich weiß, was Sie getan haben, wie hart Sie gearbeitet haben, wie verängstigt Sie gewesen sind. Aber Sie haben niemals aufgegeben.«
Nell erwiderte seinen Blick fest und unverwandt. »Und das werde ich auch niemals tun«, sagte sie energisch. »Das sollte Ihnen klar sein. Bereiten Sie sich darauf vor. Ich werde niemals aufgeben.«
»Du gehörst mir. Warum zwingst du mich, dir wehzutun, Helen?«
Es war Evans Stimme – diese ruhige, trügerisch vernünftig klingende Stimme, mit der er immer sprach, bevor er sie bestrafte. Panische Angst wallte in ihr auf, wollte aus ihrem Inneren ausbrechen. Aber sie drängte sie gewaltsam zurück, denn sie wusste, dass panische Angst genau das war, was er wollte.
»Du kannst mir nicht mehr wehtun. Ich werde niemals zulassen, dass jemand, den ich liebe, durch dich leiden muss.«
Seine Haut bewegte sich leicht unter ihren Fingerspitzen, als ob unter der Oberfläche irgendetwas herumkröche. Aber Nell fuhr fort, den lindernden Balsam auf seiner Wange zu verteilen. Ein plötzlicher Schauder überlief ihn, und er packte ihr Handgelenk. »Lauf weg.« Tränen stiegen in seinen Augen auf, als er beschwörend flüsterte: »Fliehe, bevor es zu spät ist!«
»Dies ist mein Zuhause.« Furcht versuchte, in ihren Bauch zu kriechen, aber sie sprach ruhig, beherrscht. »Und ich werde es mit allem beschützen, was ich bin. Wir werden dich besiegen.«
Wieder überlief ihn ein Schauder. »Was haben Sie gesagt?«
»Ich habe gesagt, Sie sollten sich jetzt am besten eine Weile hin legen, Mr Harding.« Sie schraubte die Flasche zu, während Mitleid mit ihm in ihr aufwallte. »Ich hoffe, Sie fühlen sich bald wieder besser.«
»Du hast ihn gehen lassen?« Ripley marschierte aufgebracht im Polizeirevier hin und her, raufte sich vor Frustration die
Haare. »Du hast ihm einfach nur den Kopf getätschelt und ihm gesagt, er soll ein Nickerchen machen?«
»Ripley.« In Zacks Stimme schwang ein warnender Unterton mit, aber sie schüttelte den Kopf.
»Um Himmels willen, Zack, schalt doch mal deinen Verstand ein! Der Mann ist gefährlich. Sie hat selbst gesagt, dass sie in ihm etwas gespürt hat.«
»Es ist nicht seine Schuld«, begann Nell, aber Ripley wirbelte zu ihr herum, ließ sie gar nicht erst weiterreden. »Es geht hier nicht um Schuld, es geht um die Realität. Selbst wenn er wirklich nur irgendein Reporter mit Größenwahn wäre, wäre das schon schlimm genug. Er ist hierher gekommen, auf der Suche nach dir; er ist deiner Spur quer durch das ganze verdammte Land gefolgt, hat hinter deinem Rücken mit allen möglichen Leuten gesprochen.«
»Das ist schließlich sein Job.« Nell hob eine Hand, bevor Ripley sie erneut anfauchen konnte. Noch vor einem Jahr wäre sie vor einer solchen Konfrontation zurückgescheut. Die Zeiten haben sich wirklich geändert, dachte sie. »Ich werde ihm keinen Vorwurf daraus machen, dass er seine Arbeit tut, oder ihn für das verantwortlich machen, was jetzt mit ihm passiert. Er weiß nicht, was mit ihm vorgeht, und er ist krank, er hat Angst. Du hast ihn nicht gesehen, Ripley. Aber
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