Im Licht des Vergessens: Roman (German Edition)
strahlend blauen Augen das Blut an ihrer Hose entdeckten.
»Das ist nicht mein Blut. Ich bin unverletzt, wirklich. Aber ich brauche dringend eine Umarmung von dir, eine Riesen-Carly-Umarmung, und zwar sofort.« Sie ging in die Hocke und drückte Carly fest an sich, die ihre Arme um sie schlang.
Sie blieb in der Hocke. Sie hatte ihr Kind noch, es war hier, wohlbehalten in ihren Armen. Anderen war das nicht vergönnt.
Sie ließ Carly los und küsste sie auf beide Wangen. Dann richtete sie sich auf und sah ihre Mutter an. Essie war aufgestanden. Sie war ganz blass und hatte die Hände zu Fäusten geballt.
»Mir ist nichts passiert, und das ist das Wichtigste. Sieh mich an, Mama. Mir ist nichts passiert. Nicht das Geringste. Verstanden?«
»Okay.«
»Ich werd dir Wein und etwas zu essen bringen.« Ava kam auf sie zu und berührte ihren Arm. »Du solltest dich setzen.«
»Ja, das werde ich auch. Aber zuerst will ich mir eine andere Hose anziehen. Ich bin gleich wieder zurück«, sagte sie zu Carly.
Duncan holte Phoebe noch auf der Treppe ein.
»Du siehst erschöpft aus.«
»Es war ein schlimmer Tag. Ein furchtbarer Tag. Aber ich kann im Moment noch nicht drüber reden. Später.«
»Ich werde einfach nur da sein, du brauchst gar nichts zu sagen.«
In ihrem Zimmer zog sie eine Baumwollhose aus dem Schrank. Sie schlüpfte aus der blutbeschmierten Hose und warf sie in die schmutzige Wäsche. »Mama wird bestimmt irgendein chemisches Wunder vollbringen und das Blut dieses armen Jungen da rauskriegen.« Sie presste die Hand zwischen ihre Augen und wurde von ihrer Trauer schier überwältigt. Doch bevor Duncan sie in den Arm nehmen konnte, trat sie einen Schritt zurück und schüttelte den Kopf.
»Nein, jetzt bitte keine Tränen. Wenn ich weinen muss, hat das bis später Zeit. Meine Mutter macht sich Sorgen. Sie wird sich so lange Sorgen machen, bis ich wieder unten bin.«
»Dann lass uns runtergehen.«
Er ging mit ihr hinunter. Ava hatte bereits etwas zu essen und ein Glas Wein für sie hingestellt.
»Es wird in den Nachrichten sein«, hob sie an. »Wahrscheinlich war es das schon. Es gab eine Geiselnahme in der Hitch Street. Es ging um Gangs. Der Geiselnehmer war sechzehn. Erst sechzehn! Es hat lange gedauert, bis ich ihn zum Aufgeben überreden konnte, aber ich habe ihn überredet und ihm gesagt, dass jetzt alles gut wird. Also ist er rausgekommen, mit erhobenen Händen, genau, wie ich es ihm gesagt habe. Unbewaffnet, mit erhobenen Händen, sodass es alle sehen konnten. Und jemand hat auf ihn geschossen. Man hat ihn erschossen, während er mit erhobenen Händen dastand und sich ergab. Seine Mutter war auch da – sie war ganz in der Nähe und hat alles mitbekommen.«
»Wird er wieder gesund?«, fragte Carly.
»Nein, Schatz. Er ist gestorben.« Noch bevor ich bei ihm war, dachte Phoebe.
»Aber warum hat man auf ihn geschossen?«
»Das weiß ich nicht.« Sie strich Carly übers Haar und beugte sich vor, um ihren Scheitel zu küssen. »Wir wissen weder, wer es war, noch warum er es getan hat. Noch nicht. Im Fernsehen wird darüber spekuliert werden. Ich will nur, dass ihr alle wisst, was passiert ist.«
»Ich wünschte, das wäre nicht passiert.«
»Ach, Schätzchen, ich auch.«
Carly schmiegte sich an sie. »Wenn du etwas isst, geht es dir gleich besser. Das sagst du doch auch immer.«
»Ja, das stimmt.« Fest entschlossen tat sie sich etwas auf ihren Teller. Egal, was es war, sie würde jetzt sowieso nichts schmecken. Aber sie aß es zügig auf. »Und ich habe wie immer recht. So, und jetzt hört bitte auf, euch Sorgen zu machen, und erzählt mir, was ihr heute Abend Schönes getan habt.«
»Onkel Carter und Duncan haben ein Duelett gespielt.«
»Ein Duelett?«
»Ja, so hat Onkel Carter das genannt. Auf dem Klavier. Das hat Spaß gemacht. Und Tante Josie hat den Witz mit dem Huhn erzählt.«
»Nicht den schon wieder.«
»Ich mochte ihn.« Duncan rang sich ein Lächeln ab. Er begriff, was sie da tat, tun musste. Alle mussten wieder ganz normal werden.
»Und Duncan hat gesagt, dass wir am Samstag mit ihm segeln gehen dürfen, wenn du es erlaubst. Erlaubst du’s? Bitte! Ich war noch nie auf einem Segelboot, noch nie.«
»Du bist wirklich ein höchst vernachlässigtes, schlecht behandeltes Kind. Aber ich denke, das lässt sich einrichten.«
»O ja!«
»Jetzt ist es allerdings längst Zeit für dich, ins Bett zu gehen. Sag allen Gute Nacht, ich komme dann gleich nach oben.«
Carly ging im
Weitere Kostenlose Bücher