Im Licht von Apfelbäumen | Roman
Körper. Sie hatte kurze Blicke auf einzelne Züge von ihm erhascht – die Nase, die Schultern, die auffallende Farbe seiner Augen. Aber er hatte eines dieser komplexen Gesichter, die man lange betrachten musste, um zu verstehen, wie sich Gefühle darauf abzeichneten; um es überhaupt zu verstehen. Es war wie eine weite, vielschichtige Landschaft. Sie wollte sein Gesicht studieren, weil es auf eine bedeutsame Weise anders war – sie wusste nur nicht genau, wie.
Während Jane ein Stück abseits im Gras schlief, saß Della drei Bäume entfernt von dort, wo der Mann arbeitete. Sie nahm einen langen Grashalm zwischen die Lippen und kaute darauf herum. Ein paar Minuten später stieg er vom Baum. Im Näherkommen – sie blickte unverwandt geradeaus, sorgsam darauf bedacht, ihn nicht anzusehen – wischte er sich die Hände an den Hosenbeinen ab, bückte sich und pflückte ein Geißblatt. Richtete sich wieder auf, betrachtete es. Zupfte das rötliche, nadelähnliche Blütenblatt ab und steckte es sich zwischen die Zähne. Endlich schaute sie zu ihm. Geißblatt, sagte er mit leiser, unbeteiligter Stimme. Man nimmt die Blätter so – sie schaute wieder zu ihm, und er bleckte die Zähne, um ihr zu zeigen, wie man die Nadel zwischen die Vorderzähne steckte – und saugt daran. Siehst du? Da ist ein bisschen Honig drin. Ein bisschen Süßes. Was die Bienen mögen. Ungeniert spuckte er das Blatt wieder aus, drehte sich um und ging pfeifend davon.
Normalerweise war es Janes Aufgabe, die gefüllten Teller von der Veranda zu holen – sie war die Mutige, diejenige, die Alarm schlagen würde, wenn Gefahr drohte, und Della würde dann als Erste losrennen –, doch eines Morgens ließ Jane sich nicht ohne Weiteres wecken. Sie wehrte sich, als Della sie an der Schulter stupste – ich hab Hunger! –, und so schlich Della selbst zum Rasenrand, ging in die Hocke und wartete auf den Mann. Er hatte wieder die Tür offen gelassen, und wie schon zuvor wehte der Geruch von heißem Essen zu ihr herüber. Sie verlagerte ungeduldig ihr Gewicht. Sie war sehr dick geworden, hatte allein in den letzten zwei Tagen an Umfang zugenommen, das spürte sie. Sie wiegte sich in den Hüften, und als sie seine Umrisse in der Tür ausmachte, verlor sie das Gleichgewicht. Er war noch gar nicht herausgekommen, doch sie rappelte sich leicht benommen hoch, hechelnd wie ein Hund, und lief über das Gras. Als er auf die Veranda trat, stand sie, das Kinn vorgereckt, die Ellbogen angewinkelt, schon am Fuß der Treppe, sah aber an ihm vorbei. Na – hallo, sagte er. Und als sie nicht antwortete und die Haltung nicht veränderte: Hier, bitte. Aber sie wollte das Essen nicht direkt von ihm entgegennehmen, er musste es erst auf der Veranda abstellen.
Eines Nachmittags, als Jane wieder schlief, hockte Della erneut nicht weit von dem Mann unter einem Baum und kaute Geißblatt. Sie schwitzte trotz des Schattens. Dachte daran, wie Michaelson immer aus seinem Zimmer gekommen war, splitternackt, und sie durch die obere Etage des Hauses gejagt hatte – alle Mädchen, aufgescheucht wie ein Rudel Rehe –, und diejenige, die er fing, wurde entweder freigelassen – eine grenzenlose Erleichterung – oder mit in sein Zimmer genommen, um zärtlich mit ihm zu sein oder auch ausgepeitscht zu werden. Oder beides. Man wusste nie, was er tun würde. Die Mädchen rannten kreischend vor Angst und Entsetzen durch das Haus.
Hier, sagte der Mann plötzlich, die Leiter herunterkommend, und sie erschrak. Sie tat so, als schenkte sie ihm keine Beachtung, hörte aber zu und warf, wenn sie nicht anders konnte, aus dem Augenwinkel einen Blick auf das, wovon er redete: So hältst du die Aprikose. (Klein und schimmernd in seiner Hand.) Bei Äpfeln ist es anders, aber eine Aprikose hältst du so. Siehst du den kleinen Stängel hier? Das ist der Ableger. Damit musst du vorsichtig sein. Wenn du den beschädigst, beschädigst du diesen Teil vom Baum, den Zweig, an dem er wächst; der wird dann keine Früchte mehr tragen. Er schaute an der Baumreihe entlang und sagte: Das ist wohl erst mal alles, was du wissen musst, wenn du helfen willst. Damit drehte er sich um und ging weg. Pfeifend zuerst und dann singend, in einem leicht bebenden Bariton. Ein Kirchenlied? Sie meinte, es zu kennen. Aber sie wusste nicht, woher.
Jane sah es nicht gern, wenn Della und der Mann kommunizierten, äußerte sich aber nicht dazu. Vielleicht bekam sie es auch gar nicht mit, doch das war
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