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Im Meer schwimmen Krokodile

Titel: Im Meer schwimmen Krokodile Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fabio Geda
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Schale her, nahm Hussein Alìs Hand und legte sie um die Schale. Hiermit, sagte ich erneut.
    Wir ruderten und ruderten. Aber warum hatten wir dann das Gefühl, als kämen wir gar nicht vorwärts, ja, als machten wir sogar kehrt? Zu allem Überfluss behinderten uns auch noch die Reifenschläuche, die wir als Rettungsringe mitbekommen hatten. Zu dumm, dass wir sie mit langen Seilen am Schlauchboot befestigt hatten, weil wir dachten, sie könnten uns beim Rudern stören. Jetzt, wo es stürmte, hob sie der Wind in die Höhe und verwandelte sie in Luftballons, die das Schlauchboot kreiseln und schlingern ließen.
    Manchmal trieben uns die Strömung, der Wind oder die Wellen wieder in Richtung türkische Küste – so kam es uns wenigstens vor: Wir wussten nicht mehr genau, wo die Türkei und wo Griechenland lag, so dass der kleine Hussein Alì, ohne auch nur eine Sekunde aufzuhören, Wasser aus dem Schlauchboot zu schöpfen, sagte: Ich weiß, warum wir nie in Griechenland ankommen werden. Ganz einfach, weil das Meer in diese Richtung ansteigt. Er sagte es mit einer äußerst kläglichen Stimme.
    An der Küste stand ein Leuchtturm. Er war unser Anhaltspunkt. Aber irgendwann sahen wir ihn nicht mehr. Die Wellen waren dermaßen hoch, dass sie ihn verdeckten, und da begann Hussein Alì zu kreischen und völlig auszuflippen. Wir sind so groß wie ein Walfischzahn, sagte er. Die Wale werden uns fressen. Und wenn sie uns nicht fressen, dann die Krokodile, auch wenn ihr behauptet, dass es keine gibt. Wir müssen umkehren, wir müssen umkehren!
    Ich sagte: Ich kehre nicht um. Wir sind gleich in Griechenland, und wenn nicht, haben wir bestimmt schon die Hälfte der Strecke hinter uns. Da ist es auch egal, ob wir jetzt umkehren oder nicht. Außerdem sterbe ich lieber draußen auf dem Meer, als den Weg, den wir bereits hinter uns haben, erneut zurückzulegen.
    So kam es mitten auf dem Meer zum Streit während wir von nichts als Dunkelheit und Wellen umgeben waren. Rahmat und ich sagten: nach Griechenland, nach Griechenland! Und Soltan und Liaquat: in die Türkei, in die Türkei. Und Hus sein Alì, der nach wie vor Wasser schöpfte und weinte: Der Berg kippt um, der Berg kippt um. Die Wellen waren dermaßen hoch – bestimmt zwei, drei Meter, wenn nicht noch höher –, dass sie wie eine Lawine auf uns zudonnerten. Doch dann hoben sie uns empor und rollten unter uns durch. Sobald wir uns endlich oben auf dem Wellenkamm befanden, ging es wieder steil nach unten wie bei diesen Achterbahnen, die ich später in italienischen Vergnügungsparks gesehen habe. Aber draußen auf dem Meer war das alles andere als ein Vergnügen.
    Die Situation war also folgende: Rahmat und ich ruderten wie wild nach Griechenland (beziehungsweise in die Richtung, in der wir Griechenland vermuteten), während Soltan und Liaquat zurück in die Türkei ruderten (beziehungsweise in die Richtung, in der sie die Türkei vermuteten). Unser Streit eskalierte immer mehr. Wir beleidigten uns und begannen uns im Schlauchboot zu prügeln. Und während wir, die wir nur ein winzig kleiner Punkt mitten im Nirgendwo waren, aufeinander losgingen, weinte Hussein Alì und sagte: Was soll das? Ich mache hier meinen Job, schöpfe das Wasser zurück ins Meer, und ihr prügelt euch? Rudert gefälligst, rudert!
    Da muss das Boot aufgetaucht sein, besser gesagt das Schiff. Es war ein riesengroßes Schiff, vermutlich eine Fähre. Ich sah wie sie hinter Hussein Alìs Rücken auftauchte. Sie fuhr auf jeden Fall knapp an uns vorbei, äußerst knapp.
    Wie knapp?
    Siehst du den Blumenhändler auf der anderen Straßenseite? Von hier bis dort.
    So knapp?
    Knapp, von hier bis dort.
    Sie machte Riesenwellen, die ganz anders waren als die natürlichen Wellen. Wellen, die sich mit den anderen kreuzten, woraufhin sich das Schlauchboot aufbäumte wie ein Pferd, das von einer Biene gestochen wird. Und Liaquat konnte sich nicht länger festhalten. Ich spürte, wie seine Finger über meine Schulter glitten. Er hat nicht geschrien, er hatte gar keine Zeit dazu. Das Schlauchboot hat ihn ohne jede Vorwarnung abgeworfen.
    Wie bitte? Liaquat ist ins Wasser gefallen?
    Ja.
    Und was habt ihr gemacht?
    Wir haben nach ihm gesucht, soweit das überhaupt möglich war, und gehofft, ihn irgendwo zwischen den Wellen zu entdecken. Wir haben nach ihm gerufen, aber er war und blieb verschwunden.
    Als die Schiffswellen – das Schiff hat übrigens nicht angehalten, vielleicht hat es uns gesehen, vielleicht aber auch nicht

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