Im Mond des Styx - Lohmann, A: Im Mond des Styx
Ameise verschwand wieder im Tunnelbau.
»Ich glaub, ich muss kotzen«, sagte Tori.
»Mach mal«, sagte Mart. »Sind noch genug leere Schüsseln da.«
Er starrte auf sein Essen. Tori steckte die Spitze ihres Hakens in die Schale und rührte langsam darin herum.
»Ich frag mich«, sagte Mart, »ob das derselbe Brei ist, mit dem sie uns die letzten Tage aufgepäppelt haben.«
Tori wurde ganz grün im Gesicht. Sie schob die Schale entschieden von sich.
Der graugesichtige Dolmetscher schlich sich in gebeugter Haltung an ihren Tisch. »Ihr mögt Eure Schale nicht?«, fragte er.
Tori stieß den bernsteinfarbenen Brei in seine Richtung. »Kannste haben.«
Der Dolmetscher griff begierig danach. Er setzte die Schale an den Mund und benutzte zwei Finger als Löffel.
Tori schüttelte sich.
»Ameisenhonig«, erklärte der Dolmetscher unter Schlürfen. »Das Beste, was das Volk zu bieten hat.«
»Hm«, sagte Tori. »Was is ’n eigentlich mit den andern Bauern passiert, die angeblich noch hier warn? Haben keinen gesehen außer dir, du.«
»Sie sind eins geworden mit dem Volk«, erklärte der Dolmetscher. »Die Königin hatte keine Verwendung mehr für sie, also konnten sie dem Volk als Nahrung dienen.«
»Die Biester ha’n sie gefressen?« Tori hob den Haken und schaute entsetzt zu dem Durchgang, in dem der Myrmoi verschwunden war.
»Das ist nicht schlimm«, sagte der Dolmetscher mit vollem Mund. »Bei dem Volk gilt es als eine große Ehre, wenn man seinen Brüdern als Nahrung dienen darf, sobald man sonst nicht mehr von Nutzen sein kann. Und das Volk vergisst niemanden. Es schmeckt deine Gedanken und deine Erinnerung. Wer zum Volk gehört, der lebt in den Düften des Baus weiter für immer.«
Mart betrachtete den Ameisenhonig so angewidert, als wäre es aufgelöstes Menschenfleisch. »Na, von mir kriegen die was andres zu schmecken, wenn sie mir mit ihren gierigen Kiefern zu nahe kommen.«
»Das wird nicht passieren«, sagte der Dolmetscher. »Ihr seid Fremde. Aber ich, ich darf eins werden mit dem Volk, wenn meine Aufgabe erfüllt ist. Das haben sie mir versprochen.«
»Aufgabe, hm?«, fragte Tori.
»Das Übersetzen«, sagte der Dolmetscher. »Für den Ungeübten ist es schwer, das Volk zu verstehen. Aber mich haben sie eingeweiht. Wir hoffen aber, dass es bald nicht mehr nötig ist, mit den Menschen zu reden. Wenn die Gefahr vorüber ist, wird das Volk wieder für sich bleiben.«
»Was für ’ne Gefahr?«, fragte Tori.
»Und warum redest du von ›wir‹?«, fügte Mart hinzu. »Du bist ein Mensch, kein Käferschädel.«
»Genau.« Tori senkte die Stimme. »Pass auf, du. Wenn wir uns davonmachen, nehmen wir dich mit, Kleiner. Wir retten dich vor ’n Käferköppen – halt dich bereit!«
Der Dolmetscher schüttelte heftig den Kopf. »Die Königin sorgt für das Volk.« Er entfernte sich hastig und unter Bücklingen vom Tisch. »Und ich gehöre jetzt dazu. Bald werde ich nicht mehr außen stehen. Wer will ein Mensch sein … wenn er erfahren hat … die Einheit … Der Duft der Königin …« Er brach ab. Tori sah die Tränen in seinen Augen, als er sich abwandte und aus dem Raum floh.
»’n komischer Kauz«, befand Mart.
»Hm, welcher von beiden?«, fragte Tori.
Mart sah sie fragend an. Da trat Gontas neben ihn an den Tisch.
»Isst du das noch?«, fragte er. »Kann eine kleine Stärkung brauchen, bevor es wieder losgeht.«
Die beiden Söldner schauten neugierig zu, wie Gontas die Schale leerschlürfte. Gontas fand, dass sie leicht dümmlich aussahen dabei, mit einem halben Grinsen auf den Lippen und mit starrem Blick. Vielleicht litten sie noch an dem Gift des Pilzwaldes.
»Schmeckt’s?«, fragte Mart.
Gontas zuckte die Achseln. »Ist was süß, sag ich. Aber wohl das Reinste, was sie hier für Menschen haben, wenn ich’s recht versteh.«
Tori kicherte. Sie wirkt betrunken , befand Gontas. Er hoffte, dass sich das wieder gab.
»Wie war die Audienz bei der Königin«, fragte Mart. »Weißt du, was das Ganze hier soll?«
»Hm.« Gontas wollte nicht darüber reden. Genau genommen lag sein Besuch bei der Königin auch schon einige Zeit zurück, Tage vermutlich, aber er hatte bis heute gebraucht, um sich davon zu erholen. Und das betraf den Körper wie den Geist gleichermaßen. Etwas war bei dem Besuch zurückgeblieben, was erst allmählich in sein Bewusstsein aufstieg wie eine verschüttete Erinnerung. Nur dass es keine Erinnerung war, sondern fremde Gedanken.
»Siehst schlecht aus, du«,
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