Im Mond des Styx - Lohmann, A: Im Mond des Styx
Buschwerk bildeten abgeschiedene Winkel, oft mit einer Bank, manchmal um eine kleine Statue, eine Vogeltränke oder ein Brunnenbecken herum.
Es war dunkel, und es war still. Ein einsamer Vogel sang in der Abenddämmerung, und der friedliche Laut wollte gar nicht zu Swetjas unwirklicher Flucht passen. Wieder fragte sie sich, ob sie noch schlief und ob das alles ein Albtraum war. Würde sie aufwachen und am nächsten Tag den Ball der Königin besuchen, als wäre nichts geschehen? Oder hatte sie den Verstand verloren?
Was mochte ihr Vater denken?
Swetja zögerte, doch sie konnte nichts tun gegen das Drängen des Augenblicks. Sie konnte nicht aufhören zu laufen, sosehr sie auch wünschte, sie würde träumen und vor allem aufwachen !
Überall standen Büsche. Ein kurzer Schwenk, und sie könnte in einen der finsteren Winkel eintauchen … Konnte sie so ihre Verfolgerin abschütteln?
War diese unheimliche Frau überhaupt noch hinter ihr?
Swetja spürte die Gefahr wie einen bohrenden Schmerz zwischen den Schulterblättern. Sie konnte nicht stehen bleiben, um sich zu verstecken, sie durfte nicht einmal langsamer werden, um sich zu vergewissern. Nackte Angst trieb sie vorwärts, obwohl der Atem in ihrer Lunge brannte, obwohl sie schon benommen wurde und ihr Kleid sich anfühlte, als wollte es alles Leben aus ihr herauspressen.
Die Hecken lagen hinter ihr. Jetzt lief sie tatsächlich durch einen Wald. Es waren zierliche, schlanke Bäume. Die Zweige wuchsen hoch, das Laub war nicht dicht, und die Stämme standen weit auseinander. Kein düsterer Forst, sondern ein Wäldchen zum Lustwandeln. Das milde Licht der Monde, die bereits über dem Horizont standen, ließ die weißen Stämme schimmern.
Swetja wurde langsamer. Ihr Herz hämmerte. Sie konnte nicht mehr.
Da hörte sie ein Geräusch hinter sich. Sie taumelte zur Seite, aber da fühlte sie Finger wie Klauen auf ihren Schultern. Swetja wurde herumgerissen und sah das totenbleiche Antlitz der Fremden dicht vor sich. Die Augen waren wie dunkle Brunnen.
Swetja versuchte, die Hände der Frau abzuschütteln. Aber mit einem Mal war sie so schwach, dass sie kaum mehr die Arme heben konnte. Die Knie wurden ihr weich, ihre Beine gaben nach. Die Hände der Fremden an Swetjas Schultern waren das Einzige, was sie noch aufrecht hielt.
Die Miene der Frau war immer noch genauso ausdruckslos wie im Ballsaal.
Sie trug ein Kleid, das dem der Königin glich, nur war es von trübem Grau statt von strahlendem Silber. Die Fremde zog Swetja zu sich hin, und die Falten ihres Gewandes wallten nach vorne. Das Kleid zerfloss wie Nebel, es schloss sich um Swetja wie ein Schleier. Sie schrie auf, aber der Nebel drang in ihren Mund und erstickte den Laut in ihrer Kehle.
Doch unvermittelt war sie wieder frei.
Sie keuchte und blickte auf, und sie sah, wie die fremde Frau mit einer anderen Gestalt rang.
Es war ihr Vater!
Dew Juvan hatte die bleiche Frau von hinten gepackt und von Swetja fortgerissen. Im nächsten Augenblick stieß er sie von sich und schlug ihr ins Gesicht. Die unheimliche Fremde stürzte und rührte sich nicht mehr.
»Vater!« Swetja streckte die Arme nach Juvan aus.
Er beugte sich zu ihr nieder und hielt sie fest. Sie lehnte den Kopf an seine Schulter. Juvan beruhigte sie mit tröstenden Lauten. Hinter ihnen drangen Stimmen durch den Wald. Sie kamen näher.
»Was … was … ist das?«, stammelte Swetja. Sie löste sich von ihrem Vater. Dabei fiel ihr Blick auf ihre Hände, und sie schrie wieder auf. Das waren nicht ihre Hände!
Sie waren ganz dünn und faltig – nicht wie die Hände einer Siebzehnjährigen, sondern wie die einer siebzigjährigen Greisin!
»Vater!« Ihre Stimme klang schrill. »Was ist mit mir?«
Sie fuhr sich durchs Haar. Die Frisur hatte sich gelöst, und die Locken, die ihr auf die Schultern fielen, waren weiß.
»Pssst …«, sagte Juvan. Er klang abwesend. Tatsächlich bemerkte Swetja, dass er an ihr vorbeiblickte. »Alles wird wieder gut … glaube ich. Du wirst dich erholen.«
»Aber was ist mit dir ?«, fragte Swetja. Sie kämpfte mit den Tränen. »Was passiert hier eigentlich? Bitte, lass mich aufwachen!«
»Swetja.« Juvan sah sie an. Mit einem Mal wirkte er hellwach und eindringlich. »Hör mir zu. Du musst fort von hier. Und zwar gleich.«
»Wohin?«, fragte sie.
»Ich weiß es nicht …« Der Klang seiner Stimme verlor sich, sein Blick irrte ab. »Vielleicht musst du einen Zauberer suchen, aber ich weiß nicht, wer sonst noch
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