Im Morgengrauen
Ende. „Entschuldige, wenn ich aufdringlich war. Du solltest deine Narbe weiterlecken.“
Und weg war er.
Allein in der Scheune befolgte ich seinen Rat. Ich fühlte mich aber einsam und verlassen. Zu allem Übel meldete sich langsam der Hunger. Mein Magen knurrte und ich musste wieder an den Tag denken, an dem ich mich zum ersten Mal verwandelt hatte … Ich sah mich wieder im Wald, allein und verzweifelt, total ahnungslos … Aber an diesem Morgen war ich nicht allein auf mich gestellt gewesen, ganz im Gegenteil. Viele Leute hatten mir beigestanden, unter anderem Damien. Vielleicht war ich doch zu hart zu ihm gewesen. Was wäre eigentlich dabei, ihn zuschauen zu lassen? Er war selber ein Gestaltwandler und eine Metamorphose war schon etwas Faszinierendes. Nie würde ich diese Bilder aus meinem Gedächtnis streichen können. Ich hatte es auch nicht vor. Hätte ich mit Bestimmtheit gewusst, dass er noch nie Zeuge einer Verwandlung gewesen war, hätte ich mich vielleicht überreden lassen. Er lebte aber unter Gestaltwandlern, er hatte mit Sicherheit tausend Mal zugeguckt … Vielleicht nur Hunderte von Malen … Auf jeden Fall sehr, sehr oft. Also gab es gar keinen Grund, weshalb er ausgerechnet MICH dabei beobachten sollte. Nein, ich hatte schon richtig gehandelt.
Anna kam mich besuchen. Ich begrüßte die Abwechslung, auch wenn sie nur von kurzer Dauer war. Ihre Arbeit ließ gar nicht zu, dass sie lange bei mir verweilte. Die rosarote Narbe löste die reinste Begeisterung bei ihr aus. Sie meinte, ich müsste sie höchstens noch eine Viertelstunde bearbeiten, wenn überhaupt.
Nur noch ein wenig Geduld und ich hätte es überstanden. Müde und hungrig hatte ich das Bedürfnis, mit jemandem zu sprechen. Irgendwem … irgendwas sagen … Egal was. Egal wem. Selbst Damien wäre mir in diesem Moment willkommen gewesen. Ich musste schon sehr verzweifelt sein und konnte mir das Lachen nicht verkneifen, denn Damien war ziemlich wortkarg. Dabei hatte ich das Bedürfnis, mit Worten zu kommunizieren. Er wiederum schien eher das Fauchen zu verstehen. Ich tröstete mich: Bald wäre alles vorbei. Was waren schon ein paar Minuten?
Um mir Kraft zu geben, dachte ich an Yannick, an seine Augen, die mir sagten, dass er mich begehrte. Er liebte meine Beine. Und schon war ich wieder bei diesem scheußlichen Mal, das ich immer noch leckte. Hoffentlich würde es Yannicks Begierde nichts anhaben. Immerhin hatte er seine eigene Narbe unter einer Tätowierung versteckt.
Ich verjagte diese Gedanken aus meinem Kopf. Das, was uns verband, war zu stark. Nichts und niemand würde es zerstören können, und schon gar keine Narben. Wenn doch, könnte ich mir immer noch eine Schlange stechen lassen. Ich dachte nicht ernsthaft darüber nach, doch fragte ich mich kurz, ob Yannick auf tätowierte Frauen stand? Was für Gedanke! Die konnten nur von einer Frau kommen. Und meine wollte raus. Zeit, mich zu verwandeln.
Ich verkroch mich mit der Tasche im hinteren Teil der Scheune, um wieder Homo sapiens zu werden. Noch nie hatte ich eine Metamorphose mit einer solchen Intensität durchlebt. Hatte diese Empfindsamkeit etwas damit zu tun, dass ich Zeugin Damiens Verwandlung gewesen war? Hatte ich dadurch ein größeres Bewusstsein erlangt. Ich spürte die kleinste Veränderung in allen Muskeln, in allen Knochen, in allen Poren. Aber dann verschwand die Magie, ich wurde beobachtet. Von Damien.
Auf halbem Weg zwischen Vier- und Zweibeiner entglitt meiner Kehle ein abgewürgter Laut. Langsam kamen meine weiblichen Formen zum Vorschein und ich warf dem Spanner vernichtende Blicke zu. Wie angewurzelt starrte er mich an. Hatte ich gerade sowas wie ein Blitz in seinen Augen gesehen? Ich musste geträumt haben, er war Mensch, nicht Katze.
Wie dem auch sei, er gab mir keineswegs das Gefühl, er würde sich, wie versprochen, umdrehen. Ich versuchte mich seinen Blicken zu entziehen, indem ich ihm den Rücken zudrehte. Es gab aber kein Entkommen: Ich spürte sie nach wie vor auf mir. Seine Versprechungen waren keinen Pfifferling wert. Wut brodelte in mir. Hastig zog ich mich an, obwohl die Wandlung nicht einmal vollzogen war. Ich ging schäumend zu Damien, der sich keinen Millimeter gerührt hatte. Wortlos gab ich ihm eine Ohrfeige. Trotz der Wucht blieb er wie eine Statue stehen. Mein Bedürfnis zu reden hatte sich schlagartig gelegt.
Hals über Kopf rannte ich zu unserem Haus und nahm, ohne darüber nachzudenken, den schnellsten Weg durch den Garten.
„
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