Im Namen der Toten - Rankin, I: Im Namen der Toten - The Naming of the Dead
neue SMS.
Ein entgangener Anruf.
Sie betrachtete die Nummer des Anrufers: Eric Bain.
»Das Allerletzte, was ich jetzt gebrauchen kann«, sagte sie sich. Er hatte eine Nachricht hinterlassen, aber sie hatte keine Lust, sie sich anzuhören. Steckte ihr Handy wieder in die Tasche und zog eine neue Wasserflasche aus ihrer Reisetasche. Der süße Geruch von Haschisch wehte über sie hinweg; der Dealer vom Camp Horizon war jedoch nirgendwo zu sehen. Die jungen Männer auf der Bühne gaben sich zwar alle Mühe, doch der Höhenregler war nicht richtig eingestellt. Siobhan entfernte sich von der Bühne. Pärchen lagen auf dem Boden und knutschten oder starrten mit verträumter Miene in den Himmel. Sie stellte fest, dass sie immer weiter ging, geradewegs auf das Feld zu, wo ihr Auto stand. Bis zum Auftritt von New Order würde es noch Stunden dauern, und ihr war klar, dass sie nur dafür nicht zurückkommen würde. Was erwartete sie in Edinburgh? Vielleicht würde sie Rebus anrufen und ihm sagen, dass sie anfing, ihm allmählich zu verzeihen. Oder auch eine Kneipe auftun, sich dort mit einer Flasche eisgekühltem Chardonnay, Notizbuch und Kugelschreiber niederlassen und das Plädoyer einstudieren, das sie am Montagmorgen vor dem Chief Constable halten wollte.
Selbst wenn ich Sie wieder ins Team lasse, für Ihren Kollegen ist kein Platz … verstanden, DS Clarke?
Verstanden, Sir. Und ich weiß das wirklich zu schätzen.
Und Sie akzeptieren meine Bedingungen? Nun, DS Clarke? Ein einfaches Ja würde genügen.
Außer dass daran nichts einfach war.
Wieder auf der M90, diesmal in Richtung Süden. Nach zwanzig Minuten hatte sie die Forth Road Bridge erreicht. Keine Fahrzeugkontrollen mehr; alles so wie vor dem G8-Gipfel. Am Rand von Edinburgh wurde Siobhan klar, dass sie sich in der Nähe von Cramond befand. Sie beschloss, kurz bei Ellen Wylie vorbeizufahren, um sich persönlich dafür zu bedanken, dass sie sich am Abend zuvor ihre Schimpfkanonade angehört hatte. Sie bog links ab in die Whitehouse Road und parkte vor dem Haus. Niemand öffnete. Sie rief Ellen auf dem Handy an.
»Shiv hier«, sagte sie, als Ellen sich meldete. »Ich wollte einen Kaffee bei Ihnen schnorren.«
»Wir gehen gerade spazieren.«
»Ich kann das Wehr hören … sind Sie gleich hinter dem Haus?«
Schweigen am anderen Ende. Dann: »Später wäre mir lieber.«
»Ich bin aber schon hier.«
»Ich dachte, wir könnten vielleicht in der Stadt was trinken gehen … nur Sie und ich.«
»Klingt gut.« Ein skeptischer Blick Siobhans. Wylie schien das fast zu spüren.
»Gut«, sagte sie, »dann vielleicht eine Tasse Kaffee auf die Schnelle. Wir sind in fünf Minuten da …«
Statt zu warten, schlenderte Siobhan bis ans Ende der Häuserreihe und einen kurzen Pfad entlang zum River Almond. Ellen und Denise waren bis zu der verfallenen Mühle gegangen, jetzt aber auf dem Rückweg. Ellen winkte, Denise schien jedoch nicht so erfreut zu sein. Sie klammerte sich an den Arm ihrer Schwester. Nur Sie und ich …
Denise Wylie war kleiner und dünner als ihre Schwester. Sorgen wegen ihres Teenagergewichts hatten ihre Spuren hinterlassen: Sie sah ausgehungert aus, ihre Haut war grau, das Haar mausbraun und stumpf. Sie weigerte sich, Siobhans Blick zu erwidern.
»Hallo, Denise«, sagte Siobhan trotzdem, worauf sie lediglich ein Grunzen zur Antwort bekam. Ellen dagegen schien fast unnatürlich gut gelaunt und redete ohne Punkt und Komma, während sie zum Haus zurückkehrten.
»Gehen Sie durch den Garten«, sagte sie mit Nachdruck, »ich stelle inzwischen den Wasserkocher an – oder möchten Sie lieber ein Glas Grog? Aber Sie müssen ja fahren, oder? Das Konzert war also nicht besonders? Oder sind Sie letztlich gar nicht hingegangen? Ich bin längst aus dem Alter raus, wo man sich Popgruppen anhört, obwohl ich für Coldplay noch meine Meinung ändern würde – aber selbst dann hätte ich gern einen Sitzplatz. Den ganzen Tag auf einem Feld stehen? Das machen doch nur Vogelscheuchen und Kartoffelpflücker, oder? Gehst du nach oben, Denise? Soll ich dir eine Tasse hochbringen?« Sie kam aus der Küche, um einen Teller mit Shortbread auf den Tisch zu stellen. »Haben Sie’s da bequem, Shiv? Das Wasser kocht, ich weiß nicht mehr, womit Sie ihn trinken …«
»Nur Milch.« Siobhan spähte nach oben zum Schlafzimmerfenster. »Geht es Denise gut?«
In dem Moment tauchte Wylies Schwester hinter der Scheibe auf. Als sie merkte, dass Siobhan sie anstarrte, riss sie
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