Im Namen der Toten - Rankin, I: Im Namen der Toten - The Naming of the Dead
diese Hände zu schütteln – Bush und Putin, Schröder und Chirac. In der Zeitung stand auch, es deute wenig darauf hin, dass die Besucher des Konzerts am Samstag im Hyde Park sich nun massenweise in Richtung Norden aufgemacht hätten.
»Entschuldigung, ist hier noch frei?«
Siobhan nickte, und der Mann zwängte sich neben sie.
»War das nicht schrecklich gestern?«, sagte er. Siobhan reagierte nur mit einem Brummen, aber die Frau auf der anderen Seite erzählte, sie sei in der Rose Street einkaufen gewesen und wäre um ein Haar in das Ganze hineingezogen worden. Darauf fingen die beiden an, Kriegsberichte auszutauschen, während Siobhan wieder aus dem Fenster starrte. Nichts anderes waren die Zusammenstöße gewesen. Die Polizei hatte ihre Taktik nicht geändert: hart vorgehen, deutlich machen, dass die Stadt uns gehört, nicht ihnen. Das Filmmaterial hatte eindeutige Provokationen gezeigt. Aber sie hatten gewusst, dass es sinnlos war, an einer Demonstration teilzunehmen, die nicht für Schlagzeilen sorgte. Werbekampagnen konnten Anarchisten sich nicht leisten. Schlagstockeinsätze dagegen waren für sie kostenlose Werbung. Die Fotos in der Zeitung lieferten den Beweis: Polizisten, die mit zusammengebissenen Zähnen Schlagstöcke schwangen; wehrlos auf dem Boden liegende Randalierer, die von gesichtslosen Uniformierten weggeschleppt wurden. Da war George Orwell nicht mehr weit. Allerdings half das alles Siobhan nicht herauszufinden, wer ihre Mutter angegriffen oder warum er das getan hatte.
Aufgeben wollte sie jedoch nicht.
Ihre Augen brannten, wenn sie blinzelte, und alle paar Lidschläge schien die Welt zu verschwimmen. Sie brauchte Schlaf, war aber von Koffein und Zucker aufgeputscht.
»Entschuldigen Sie bitte, aber fehlt Ihnen etwas?«
Das war wieder ihr Nachbar. Er berührte vorsichtig ihren Arm. Als sie blinzelnd die Augen öffnete, spürte sie, dass ihr eine Träne über die Wange lief. Sie wischte sie weg.
»Mir geht’s gut«, erwiderte sie. »Nur ein bisschen müde.«
»Ich dachte schon, wir hätten Sie beunruhigt«, sagte die Frau, »mit unserem Gerede über gestern …«
Siobhan schüttelte den Kopf und bemerkte, dass die Frau mit ihrer Zeitung fertig war. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich …?«
»Überhaupt nicht, meine Liebe, nur zu.«
Siobhan rang sich ein Lächeln ab, schlug die Zeitung auf und suchte unter den Fotos nach dem Namen des Fotografen …
Am Bahnhof Haymarket stellte sie sich bei den Taxis an. Endlich im Western General angekommen, ging sie geradewegs zur Station, wo sie ihren Vater traf, der gerade einen Tee schlürfte. Er hatte in Kleidern geschlafen und sich noch nicht rasieren können, sodass Wangen und Kinn mit grauen Stoppeln bedeckt waren. Er kam ihr alt vor, alt und mit einem Mal sterblich.
»Wie geht es ihr?«, fragte Siobhan.
»Nicht allzu schlecht. Kurz vor Mittag soll sie die Computertomografie kriegen. Und du?«
»Hab das Arschloch noch nicht gefunden.«
»Ich meinte, wie es dir geht.«
»Mir geht’s gut.«
»Du warst bestimmt die halbe Nacht auf.«
»Vielleicht etwas mehr als die halbe«, räumte sie lächelnd ein. Ihr Handy piepte; keine SMS, sondern die Warnung, dass ihr Akku fast leer war. Sie schaltete es aus. »Kann ich zu ihr?«
»Sie bereiten sie gerade vor und sagten, sie würden mir Bescheid geben, wenn sie fertig sind. Was macht die Welt draußen?«
»Sieht einem weiteren Tag entgegen.«
»Kann ich dich zu einem Kaffee einladen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich ertrinke in dem Zeug.«
»Ich glaube, du solltest dich ein bisschen ausruhen, Liebes. Komm sie doch heute Nachmittag besuchen, nach den Untersuchungen.«
»Ich will ihr wenigstens hallo sagen.« Sie deutete mit dem Kopf auf die Station.
»Und dann fährst du nach Hause?«
»Versprochen.«
Aus den Morgennachrichten: Die Festgenommenen vom Vortag wurden dem Sheriff Court in der Chambers Street überstellt. Das Gericht selbst würde nichtöffentlich tagen.Vor dem Dungavel-Abschiebezentrum fand eine Protestkundgebung statt. Die Einwanderungsbehörde hatte die wartenden Abzuschiebenden vorsorglich woandershin gebracht. Sie würden trotzdem weiter demonstrieren, sagten die Organisatoren.
Ärger beim Friedenscamp in Stirling. Menschen brachen nach Gleneagles auf; die Polizei, entschlossen, sie daran zu hindern, berief sich auf Sonderrechte der Section 60, wonach Personen in bestimmten Situationen ohne konkreten Verdacht angehalten und durchsucht werden durften. In
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