Im Nebel eines neuen Morgens - Kriminalroman
Verschwinden des Kindes so abgelenkt gewesen, dass er nicht über den nächsten logischen Schritt nachgedacht hatte. Wie alle war er davon ausgegangen, dass Adele krank und gebrechlich bei Madame Louiselle lag. Aber irgendwann würde er sie befragen wollen. Dann, wusste Raymond, würde es in der Stadt kein Halten mehr geben. Keiner würde ihm mehr zuhören, wenn er zu erklären versuchte, dass jemand anderes in Iberia sein Unwesen trieb.
Wie erwartet, lieferte die Toilette keinerlei Hinweise. Raymond kehrte zum Streifenwagen zurück. Kurz darauf erschien auch Joe, seine Achseln und sein Rücken waren mittlerweile schweißgetränkt. Das gedämpfte Schluchzen von Aimee begleitete sie noch, als sie losfuhren.
»Fahr zu Madame Louiselle, und hol Adele. Schaff sie wieder ins Gefängnis.« Joe starrte durch die Windschutzscheibe. »Ich hab Aimee erklärt, dass Adele dem Kind nichts antun konnte, sie ist viel zu krank dafür. Aber in der Stadt erzählt man sich die verrücktesten Sachen, sie soll letzte Nacht umhergestreift sein. Die Berichte, dass sich jemand in der Stadt rumgetrieben hat, machen es auch nicht besser. Welcher Scheißkerl hat bloß diese Vogelscheuche aufgehängt …«
Raymond antwortete nicht. Das Sonnenlicht fiel fächerförmig durch die Bäume und erzeugte blendende Licht- und Schattenblitze. Joe, wusste er, saß neben ihm, schwitzend in der kühlen Morgenluft, er selbst aber war weit, weit weg.
Vor ihm erstreckte sich eine gewundene abschüssige Straße, die durch ein kleines Dorf führte. Das Sonnenlicht berührte die Mauern der Läden und Häuser, deren Anstrich verwittert war. Er hatte das Gewehr im Anschlag, seine Stiefelschritte hallten vom Pflaster wider. Er gehörte zu einem Säuberungstrupp. Die Infanterie war auf heftigen Widerstand gestoßen und hatte erst nach Wochen schwerer Verluste Triest einnehmen können. Die meisten Soldaten waren bereits durch dieses Dorf marschiert, Raymond und einige andere bildeten nun die Nachhut. Nach dem Lärm der Kämpfe genoss er die Ruhe.
Kurz blieb er stehen und betrachtete die toten deutschen Soldaten. Sanitäter hatten die amerikanischen Verwundeten evakuiert, die zerfetzten Leiber hier aber kündeten unverhohlen von den Schrecken des Krieges. Im Lauf der Zeit war ihm der Tod ein nur allzu vertrauter Begleiter geworden. Er erkannte ihn in den Gesichtern seiner Freunde und Kameraden, denen er nicht mehr hatte helfen können. Dann war es besser, nicht hinzusehen und sich stattdessen auf den Feind zu konzentrieren und jeden einzelnen leblosen Körper als weiteren Schritt auf dem Weg zum Sieg zu betrachten.
In der Dorfmitte trat er aus dem Schatten der alten Gebäude und ging auf den Marktplatz. Fünf Deutsche waren hier gefallen. Ihre blasse Jungenhaftigkeit entsetzte ihn. Sie konnten nicht älter als fünfzehn sein. Die Gerüchte, wonach Hitler Jungen einzog, die eigentlich in die Schule gehörten, entsprachen der Wahrheit. Das Kriegsglück hatte sich gewendet, Deutschland würde verlieren, doch zuvor würde dieser Wahnsinnige die gesamte Bevölkerung in den Untergang treiben.
Einer der Jungen stöhnte. Raymond schob einen Toten aus dem Weg und ging in die Hocke. Das Gesicht des Jungen war schmerzverzerrt, aber er zeigte keinerlei Anzeichen von Angst.
»Lebt der noch?«
Raymond sah auf. Antoine kam auf ihn zu. Sein jüngerer Bruder wirkte erschöpft, und erst jetzt wurde Raymond bewusst, dass Antoine auch erst achtzehn Jahre alt und selbst noch fast ein Kind war.
»Ziemlich schwer verletzt.« Der Tod hatte sich bereits in den Blick des Jungen geschlichen, er wusste, er würde sterben. Oberkörper und Beine waren von seinen toten Kameraden bedeckt, trotzdem war zu erkennen, dass sein Unterleib völlig aufgerissen war.
Antoine trat von einem Fuß auf den anderen. »Was willst du machen? Die Sanitäter sind schon fort.«
Raymond sah dem Jungen in die blauen Augen. Unnachgiebig, fast herausfordernd starrte dieser ihn an. »Ihn liegen lassen, damit er in Frieden stirbt.« Er bekreuzigte sich und stand auf.
»Wir können ihn doch nicht einfach liegen lassen. Er ist doch noch ein Kind, Raymond.«
»Was sollen wir sonst tun? Ich kann ihn nicht wie einen kranken Hund erschießen.« Zorn kam in ihm hoch. »Bis wir einen Sanitäter finden, ist er tot.« Es war eine Sache, für die Freiheit der Welt zu kämpfen, eine ganz andere aber, zuzusehen, wie ein Kind starb.
»Vielleicht können wir ihn tragen.«
Raymond schüttelte den Kopf. »Dazu ist es zu
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