Im Netz des Spinnenmanns: Thriller (German Edition)
versperrte ihr den Weg. Sie wollte auf gar keinen Fall einen Unfall riskieren, bei dem Menschen zu Schaden kamen. Sie hatte Lizzy Gardner nicht mit Absicht verletzt, als sie von dem Café weggefahren war. Es war ein Unfall gewesen. Sie wollte nur die Frau im Auge behalten und sichergehen, dass ihr Bruder sich nicht in der Nähe aufhielt und Ärger machte.
Doch nichts war so gelaufen wie geplant. Aus ihrem einwöchigen Trip waren bereits zwei Wochen geworden. Ihr Mann und ihre Kinder brauchten sie, aber sie konnte jetzt nicht nach Hause zurückkehren. Noch nicht.
Sie war in die Staaten gekommen, um ihren Bruder zu finden und ihn um Verzeihung zu bitten. Sie hatte ihn seit über zwanzig Jahren nicht gesehen. Damals war sie nach Italien gegangen, um dort zu studieren. Knapp einen Monat später lernte sie Nicolas kennen. Die beiden verliebten sich und während der nächsten zwei Jahrzehnte zählte nichts anderes. Zusammen mit Nicolas kaufte sie sich ein Haus auf dem Land. Ihr erstes Kind war ein Mädchen, Amber. Später kam ein Junge dazu, den sie auf den Namen Adam tauften. Adam entwickelte sich zu einem Ebenbild von Sam, ihrem jüngeren Bruder.
Karen biss sich auf die Lippe, als ein Polizeiwagen mit blinkendem Blaulicht an ihr vorbeiraste.
Adam war vor sechs Monaten dreizehn geworden und jedes Mal, wenn sie ihn ansah, sah sie ihren Bruder: dieselbe hohe Stirn, dieselbe ausgeprägte Kinnpartie und dieselben ausdrucksvollen blauen Augen. Aber allzu oft nahm das Gesicht ihres Sohnes vor ihrem geistigen Auge verzerrte Züge an und dann sah sie darin denselben entsetzten Blick, den sie bei ihrem Bruder gesehen hatte, als sie ihn im Keller fand.
Sie spürte einen Stich in ihrer Brust.
Ihr Wagen scherte zum Straßenrand aus und Kies spritzte auf, als sie ihn mit quietschenden Reifen zum Stehen brachte. Sie ließden Kopf auf das Lenkrad fallen und schnappte gierig nach Luft. »Oh mein Gott«, schluchzte sie. »Was habe ich nur getan?«
Begleitet vom Klacken ihrer hohen Absätze auf dem Fußboden, eilte Nancy Moreno durch die Doppeltür in das Nachrichtenstudio.
Caroline Fyffe, Visagistin und Hairstylistin beim Sender KBTV, kam ihr hastig entgegen. »Wo stecken Sie nur? Mr. Cunningham hat schon überall nach Ihnen gesucht und sich dabei die Haare gerauft.«
»Er hat eine Glatze«, gab Nancy zu bedenken, als sie Caroline in ein Zimmer zur Rechten folgte und auf einem Stuhl vor dem Wandspiegel Platz nahm. Ohne auch nur einen Augenblick zu verlieren, bürstete und toupierte Caroline Nancys Haare mit flinken und routinierten Bewegungen.
Irgendwo weiter weg rief jemand nach Nancy.
»Sie ist hier drinnen bei mir«, rief Caroline zurück.
Nur wenige Sekunden später füllte Mr. Cunninghams korpulente Gestalt – die Fäuste in die Hüften gestemmt – den Türrahmen aus.
Viel konnte er nicht sagen.
Schließlich war sie ja hier, oder nicht?
Jeder wusste, dass Cunningham sie niemals rausschmeißen würde. Nancy Moreno war das Beste, was der Sender zu bieten hatte. Seit 1995 hatte sie alle drei der äußerst beliebten und preisgekrönten Abendnachrichtenprogramme von News 10 moderiert. Jetzt hatte man ihr die Verantwortung für das Morgenprogramm übertragen, um die Einschaltquoten zu verbessern. Im Laufe der Jahre hatte Nancy zahlreiche professionelle Auszeichnungen erhalten, darunter zwei Emmys.
Das Klingeln ihres Handys riss sie aus ihren Gedanken. Sie drückte die grüne Taste und hielt das Gerät ans Ohr.
»Haben Sie die Informationen beschafft, um die ich Sie gebeten hatte?«
Das war
er
. Nancy presste das Handy fester ans Ohr. »Noch nicht, aber ich arbeite daran. So was braucht Zeit.« Sie warfCunningham einen flüchtigen Blick zu. »Ich kann jetzt nicht reden«, ließ sie den Anrufer wissen. »Ich muss gleich auf Sendung …«
»Das grüne Licht ging vor zwei Minuten an«, blaffte Cunningham. »Die Haare sind in Ordnung. Sie muss auf Sendung. Sofort!«
»Beschaffen Sie mir die gewünschten Informationen noch diese Woche«, sagte der Anrufer, »oder Gina Lockwell von Channel 3 bekommt meine Story.«
»Soll das eine Drohung sein? Wenn es nämlich eine ist …«
Ein Lachen aus tiefer Kehle schnitt ihr das Wort ab. Das Klicken am anderen Ende sprach eine deutliche Sprache: Das Gespräch war beendet.
Nancy zitterte. Aber der Gedanke, dass Gina Lockwell womöglich an die Story herankam, verdrängte jegliche Bedenken, bei dem Anrufer könnte es sich um einen Mörder und Psychopathen handeln.
»Sie schwitzen
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