Im Netz des Teufels
seine Familie jetzt dafür büßen?
Trotz all dieser unbeantworteten Fragen stand für Michael eines fest. Der Mann, der ihn angerufen hatte, war für den brutalen Mord an Viktor Harkov verantwortlich.
Michael warf einen Blick auf die Zuschauerreihen. Hinten im Gerichtssaal sah er zwei Detectives aus dem 114. Revier, die die ersten Ermittlungen im Mordfall von Colin Harris durchgeführt hatten. Es wäre so einfach gewesen, den Raum zu durchqueren, sich zu ihnen vorzubeugen und ihnen zu sagen, was passiert war.
Seien Sie vernünftig, Michael. Ich melde mich bald wieder.
Kurz darauf wurden die Geschworenen wieder in den Gerichtssaal geführt. Richter Gregg fasste zusammen, was er vor der Unterbrechung der Verhandlung gesagt hatte.
Normalerweise hätte Michael in einem solchen Augenblick den Angeklagten beobachtet. Stattdessen schaute er in die Gesichter der Geschworenen, in die Gesichter der Zuschauer und in die Gesichter der Polizisten und Gerichtsbeamten, die überall im Gerichtssaal verteilt waren. Er warf sogar einen Blick auf die Protokollführerin.
Beobachtete ihn einer von diesen Leuten?
»Mr Roman«, sagte Richter Gregg. »Sie können fortfahren.«
Michael Roman stand auf, trat vor den Tisch und begann zu sprechen. Er war sicher, dass er sich bei den Geschworenen für die Unterbrechung entschuldigte. Zweifellos fasste er auch kurz das zusammen, was er bereits gesagt hatte. Ohne Frage fuhr er dort fort, wo er aufgehört hatte.
Allerdings hörte er nichts von alldem. Kein einziges Wort. Stattdessen konzentrierte er sich auf die Menschen ringsherum. Gesichter, Augen, Hände, Körpersprache.
Dort in der ersten Zuschauerreihe saß ein Mann um die fünfzig. Er hatte eine Narbe am Hals, die kurz geschorenen Haare eines Soldaten und dicke Arme.
Michael sah eine Frau zwei Reihen hinter ihm. In den Vierzigern, zu stark geschminkt, zu viel Schmuck. Sie trug lange, künstliche, rot lackierte Fingernägel. An der linken Hand fehlte ein Fingernagel.
Ganz hinten in den Zuschauerreihen saß ein stämmiger junger Mann in den Zwanzigern mit einem Ohrring im linken Ohr. Er schien Michaels Schritte durch den Gerichtssaal besonders aufmerksam zu verfolgen.
Michael schaute in die Gesichter der Geschworenen. Er hatte ideale Geschworene – das hatten alle Anwälte, sowohl die Verteidiger als auch die Ankläger. Man wünschte sich immer Geschworene, die in der Lage waren, sich in den Fall hineinzudenken. Im Gegensatz zu dem, was die Öffentlichkeit gemeinhin glaubte, wünschten sich Anwälte keine Geschworenen, die unvoreingenommen waren und keine Vorurteile hatten. Ganz im Gegenteil. Man wünschte sich jemanden, der die richtigen Vorurteile hatte. Als Ankläger wünschte Michael sich den gewöhnlichen Mitarbeiter eines Energiekonzerns, den Busfahrer, den steuerzahlenden Bürger über vierzig. Er wünschte sich Personen, die alt genug waren, um von Verbrechen, Verbrechern und ihren Rechtfertigungen die Nase voll zu haben. Was er sich gar nicht wünschte, das war die dreiundzwanzigjährige Lehrerin einer Innenstadtschule, die felsenfest an Recht und Gerechtigkeit glaubte. Je weniger idealistisch ein Geschworener war, desto besser.
Als Michael die Geschworenen musterte, versuchte er sich zu erinnern, worüber er im Auswahlverfahren mit ihnen gesprochen hatte. Viele Menschen wussten nicht, dass die scheinbar ungezwungenen Gespräche mit einem Ankläger oder Verteidiger ebenso aufschlussreich oder noch aufschlussreicher waren als die direkte Befragung. In der Regel fiel Michael während eines Prozesses all das wieder ein. Aber heute war alles anders, nicht wahr? Er erinnerte sich an nichts.
Steckte einer der Geschworenen mit Aleks, dem Mann am Telefon, der seine Familie gekidnappt hatte, unter einer Decke? Einer der Ersatzleute? Einer der Zuschauer? Einer der Gerichtsbeamten?
Wer beobachtete ihn?
»Mr Roman?«
Michael drehte sich um. Der Richter sprach mit ihm. Michael hatte keine Ahnung, was er sagte oder was er gesagt hatte. Er wusste auch nicht, wie lange er abwesend gewesen war. Er drehte sich um und warf einen flüchtigen Blick auf die Geschworenen. Sie starrten ihn alle nervös an und warteten auf sein nächstes Wort. Was war sein letztes Wort gewesen? Das war der Albtraum eines jeden Anwalts. Doch heute war das nichts im Vergleich zu Michael Romans wahrem Albtraum.
»Euer Ehren?«
Richter Gregg winkte ihn zu sich. Michael drehte sich zu dem Angeklagten um.
Patrick Ghegan lächelte.
28. Kapitel
Im Geiste, in
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