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Im Netz des Teufels

Im Netz des Teufels

Titel: Im Netz des Teufels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Montanari
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dem Reich der nahen wie fernen Zukunft, oftmals Jahrhunderte in der Zukunft, konnte er sich nicht selbst sehen. Jedenfalls nicht in dem Sinn, wie man sich in einem Spiegel oder einem Schaufenster sieht. Oder auch nur wie das schwache Traumbild seines Gesichts in einem stillen Gewässer, das dann sofort von einer Brise zerstört wird und vergeht.
    Nein, er als der Unsterbliche sah sich selbst eher im Reich eines Gottes. Er hatte keine körperliche Gegenwart, keine aus Fleisch, Blut und Sehnen bestehende Materie, keine Muskeln, keine Knochen. Dies waren organische, irdische Dinge. Er entstammte dem Äther.
    Es hieß, er sei, in ein weißes Altartuch gewickelt, auf dem Friedhof neben der verfallenden Lutherkirche im Südosten Estlands vor dreiunddreißig Jahren gefunden worden. Eines Wintermorgens soll ein grauer Wolf an die Tür des Priesters gekratzt und den Mann zu dem Baby auf dem Friedhof geführt haben. Der alte Priester lief zehn Kilometer weit, um das Baby in das russische Waisenheim in Treski zu bringen. Der Wolf soll Tag und Nacht vor den Toren des Waisenheims gesessen haben, tagelang, vielleicht sogar Wochen. Eines Tages brachte einer der russischen Arbeiter den Jungen, der wieder zu Kräften gekommen war, zum Tor. Es hieß, der Wolf habe ein Mal über das Gesicht des Jungen geleckt und sei dann im Wald verschwunden.
    An dem leuchtenden weißen Stoff soll ein Stück gelbe Pappe gehangen haben, eine Karte, auf der in der verschnörkelten Schrift eines jungen Mädchens ein einziges Wort stand. Aleksander.
    Als er als Kind wie ein Geist durch das von den Sowjets geführte Waisenhaus lief, galt er als widerspenstig und wurde daher ständig in andere Heime abgeschoben. Er lernte viele Dinge. Er lernte, Essen zu hamstern und sich seine Rationen einzuteilen. Er lernte zu lügen und zu stehlen. Er lernte zu kämpfen.
    Häufig fand man ihn in den kleinen Klassenräumen oder den spärlich ausgestatteten Bibliotheken, als er im Kerzenlicht in den Büchern älterer Kinder las. Dafür bekam er oft Schläge und wurde vom Abendessen ausgeschlossen, doch er lernte seine Lektion nie. Er wollte die Lektion nicht lernen. Denn in diesen abgegriffenen, ledergebundenen Büchern fand er die Welt außerhalb der Mauern des Waisenheims. Als er in den Büchern las, lernte er die Geschichte seines Landes und seines Volkes kennen und erfuhr von den von Dänen, Norwegern und Russen hart umkämpften estnischen Küsten. Er schaute auf die Fotos dieser Menschen und betrachtete dann sein eigenes Gesicht im Spiegel. Von wem stammte er ab? Welches Blut floss in seinen Adern? Er wusste es nicht. Im Alter von acht Jahren entschied er, dass es keine Rolle spielte. Er würde lernen, unbesiegbar zu sein und sich als Einzelkämpfer durchzuschlagen.
    Als er zehn Jahre alt war, zeigte ihm ein Musiklehrer, ein gewisser Herr Oskar, wie man Flöte spielte. Es war das allererste Mal, dass jemand freundlich zu ihm war. Er brachte Aleks die ersten Tonfolgen bei und gab ihm zwei Jahre lang jeden Sonntagnachmittag Unterricht. Aleks lernte nicht nur die estnischen Komponisten kennen – Eller, Oja, Pärt, Mägi –, sondern auch viele der russischen und deutschen Komponisten. Als Herr Oskar an einem schweren Schlaganfall starb, maß der Leiter des Waisenhauses der lädierten, alten Flöte keinen Wert bei. Aleks durfte sie behalten. Nie zuvor hatte ihm jemand etwas geschenkt.
    Mit achtzehn Jahren ging Aleks zur russischen Armee. Der über eins achtzig große und kräftig gebaute junge Mann wurde sofort nach Tschetschenien geschickt.
    Kurz nachdem er seine Grundausbildung absolviert hatte, rekrutierte ihn der FSK und bildete ihn in Verhörtechniken aus. Er führte die Verhöre meist nicht selbst durch, sondern war einfach nur anwesend wie ein Gespenst, das die Gefangenen nachts quälte und sie tagsüber verfolgte. Aleksander lernte, tief und fest zu schlafen, während die Schreie der Männer rings um ihn herum die Nacht durchdrangen.
    Nach sechs Monaten wurde er als fronttauglich eingestuft. Zuerst wurde er in die Grenzstadt Molkow geschickt, doch das erwies sich nur als Zwischenstation. Drei Wochen später wurde er in eine Stadt namens Grosny geschickt.
    Sie schickten ihn in die Hölle.

    Die Belagerung von Grosny begann Silvester 1994 und war für die russischen Streitkräfte ein Desaster. Zuerst sammelten sich die eintausend Mann des mächtigen 131. Maikop-Bataillons im Norden der Stadt und trafen kaum auf Widerstand. Es gelang ihnen, den Flughafen im Norden

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