Im Netz des Verbrechens
nach ihrem zögerlichen ›Herein!‹ steckte Marc seinen Kopf ins Zimmer. Sie machte sich nicht die Mühe, das Album wieder zu verstecken, und er stellte keine Fragen, sagte nur: »Das Mittagessen ist fertig. Aber ich nehme an, das hätte ich genauso gut lassen können. Gerade kam ein Anruf von Dannys Mutter. Er wurde aufgeweckt, es geht ihm den Umständen entsprechend gut und er hat nach dir gefragt.« Er machte eine Pause.
Sie spürte ihr Herz in der Kehle pochen und wollte etwas sagen. Sie öffnete den Mund, spürte ein stummes ›Danny‹ auf den Lippen, brachte aber keinen Ton heraus.
»Wenn du möchtest, kann ich dich zu ihm bringen«, sagte Marc endlich und erlöste sie aus ihrer Starre.
Sie warf das Album auf das Bett. Kaum eine Minute später stand sie schon im Flur, ging unruhig hin und her, während Marc die Autoschlüssel holte, Schuhe anzog und sehr gewissenhaft die Schnürsenkel band.
Die Fahrt zum Krankenhaus verlief schweigend, als ob er bemerkt hätte, dass sie ihre Stille brauchte. Er schaltete sogar das Radio aus. Ihre Gedanken schwirrten umher, sie konnte keinen einzigen davon fassen. Vor allem klangen die Worte, die sie ihm zuletzt gesagt hatte, in ihr nach. Ich liebe dich. In den letzten Tagen hatte sie schmerzlich genug erfahren, wie es sich anfühlte, ihn zu verlieren.
Die Realität schien unglaublich fern. Sie wusste nicht, wie sie aus dem Auto gestiegen, ins Krankenhaus gekommen oder in sein Zimmer gelangt war. Plötzlich stand sie vor seinem Bett, sah ihn an und wollte heulen. Was wirklich selten dämlich war, denn er lebte.
Sein Gesicht war blass und eingefallen, unter den Augen lagen dunkle Ringe. Ein künstliches Koma sollte eine Art tiefer Schlaf sein, doch er sah aus, als hätte er die letzten Tage auf der Flucht vor der Welt verbracht. Die Kabel und Schläuche machten alles nur noch unwirklicher, sie dachte daran, dass sie endlich etwas sagen sollte – vielleicht über Leah und Kay, denen es wieder besser ging. Oder dass der Gedanke, ihn zu verlieren, sie fast zerbrochen hatte. Und dass er sie nie, nie verlassen durfte.
»Ich liebe dich auch«, flüsterte er. Seine Stimme klang geschwächt.
»Was?« Jetzt heulte sie doch noch. Ich liebe dich auch . Er hatte sie gehört. Als er ihr zu entgleiten drohte, hatte er sie trotzdem gehört.
»Komm her.« Er öffnete seine Handfläche.
Sie trat auf ihn zu. Erst jetzt traute sie sich, ihn anzufassen, ließ sich auf den Stuhl neben seinem Bett nieder und legte ihre Finger in seine Hand.
Er erwiderte den Druck ihrer Finger. »Ich hatte Angst, dass du weg bist, wenn ich aufwache. Ich hatte davon geträumt. Und es war schlimm.«
»Ich bin da! Ich bin doch da.«
»Ja. Und ich möchte, dass es auch so bleibt.«
Sie nickte. Zumindest für die nächsten vier Monate würde es so bleiben. Sie – bei ihm. Und dann, dann müssten sie weitersehen. Sobald er zu Kräften kam, würde sie ihm vom Album und den Aufzeichnungen erzählen. Dshanan wollte die Aufzeichnungen um jeden Preis haben, die Chancen standen gut, sie in eine Falle locken zu können.
Er drückte erneut ihre Hand. »Juna? Du hast nicht gehört, was ich gesagt habe, oder?«
»Doch. Ja … Ich gehe nicht nach Russland. Ich kann noch sein in Deutschland. Hat Marc gesagt. Vier Monate!«
Es war mehr, als sie hoffen konnte. Vier Monate in seiner Nähe.
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe gesagt, dass ich möchte, dass du bei mir bleibst. Und dass ich dich liebe.«
»Ja.« Sie wischte sich über die Augen. Eigentlich hatte sie vorgehabt, mit dem Weinen schon längst aufzuhören. Es gab überhaupt keinen Grund dafür. Aber die Tränen flossen unaufhörlich über ihre Wangen.
»Juna, ich möchte, dass du mich heiratest.«
Jetzt hatte sie es doch noch geschafft, mit dem Weinen aufzuhören. » Was? «
Was auch immer man ihm hier gab, es sollte schleunigst abgesetzt werden.
Er versuchte zu lächeln. »Ich habe gehofft, du würdest weniger entsetzt reagieren. Ich weiß, dass wir uns noch nicht lange kennen. Dass du denken musst, ich hätte den Verstand verloren und dass es plötzlich kommt und unter seltsamen Bedingungen – ja, verdammt, ich weiß das alles! Aber ich will dich nicht gehen lassen. Ich würde es nicht ertragen, dass du irgendwann so weit weg von mir sein musst, nur weil dein Visum abläuft.« Er schloss die Lider. »Entschuldige. Eigentlich habe ich es mir anders vorgestellt. Mit … deutlich weniger Stammeln.«
Heiraten. Das klang wirklich völlig irrsinnig.
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