Im Netz des Verbrechens
Das vierte Glas. Nun aber Schluss mit Alain Delon.
»Und jetzt?« Sie stand auf. Eigentlich wollte sie gehen und nach Leah suchen, es gab so viele Dinge, die nicht einmal ansatzweise einen Sinn ergaben.
»Ich habe von deiner Entführung gehört«, er legte seine Hand auf ihre nackte Schulter und zwang sie, sich wieder hinzusetzen, »gelesen, um genau zu sein. Magst du mir erzählen, was passiert ist?«
»Oleg. Angeblich ein Model-Scout. In Wirklichkeit hat er anscheinend für einen internationalen Menschenhändlerring gearbeitet, naiven Mädchen eine Model-Karriere versprochen und sie nach Deutschland verschleppt, wo sie ohne Papiere und Sprachkenntnisse für ihn anschaffen müssen.«
»Wow. Das hast du herausgefunden?«
»Eins und eins zusammengezählt.« Sie zupfte an der obersten Schicht ihres Rockes, die sich vom Mieder an der Seite ablöste. »In Russland hat er meine Freundin entführt. Pyschka. Erinnerst du dich noch an Pyschka? Irgendwie ist es ihr gelungen, mich anzurufen und mir ein paar Hinweise zu geben, wo sie ist. Deshalb bin ich nach Deutschland gekommen. Oleg ist mir gefolgt. Er hat mich mit K. O.-Tropfen betäubt und in eins der Lager gebracht – keine Ahnung wohin genau.«
»Und dir ist die Flucht gelungen?«
»Die Flucht?« Ihr Blick schnellte zu ihm. »Woher weißt du von meiner Flucht?«
»Offensichtlich bist du hier, also musst du es irgendwie geschafft haben, von dort wegzukommen.« Er hob eine Augenbraue. »Wie?«
»Mein Karate ?« Sie schnaubte. »Oleg konnte es sich nie merken.«
»Verstehe.« Er lachte leise auf und ging ein paar Schritte herum, inzwischen sichtlich entspannter, als müsse er sich nur die Beine vertreten. »Dann muss ich mich also in Acht nehmen vor deinem … Karate?«
»Eigentlich Taijiquan.« Sie schaute ihn von der Seite an. Machte er sich über sie lustig?
»Weißt du etwas über das Lager, über die Leute, die dich dort festgehalten haben?« Er stellte sich hinter sie und stützte sich an der Sofalehne ab.
»Nicht viel. Ich habe nur zwei, höchstens drei Männer gesehen, von denen würde ich nur einen wiedererkennen können. Und ich erinnere mich an andere Mädchen.« An Zdenka. Sie wünschte sich, sie hätte niemals ihren Namen erfahren.
»Hat dir jemand geholfen zu fliehen?« Sie merkte, wie sich seine Hand fester in die Sofalehne grub. Es behagte ihr nicht, ihn in ihrem Rücken zu wissen. Sie wollte ihm ins Gesicht sehen. Wollte merken, wenn er etwas vor ihr zu verbergen versuchte.
»Du traust meinen Karate-Künsten doch nicht so viel zu, was?«
Seine weißen, feingliedrigen Finger kneteten das schwarze Leder des Sofas. Dann ließ er die Lehne los, unverwandt, als hätte er eine Entscheidung getroffen. »Dein Vater ist sofort hergekommen, als er von der Entführung gehört hat, wusstest du das?«
»Mein Vater ist hier? In Deutschland?« Sie fuhr herum, doch seine Finger, die ihr über die Wange streiften, zwangen sie, das Gesicht abzuwenden.
»Er würde dich niemals im Stich lassen. Das wissen wir beide, nicht wahr? Du bist seine Tochter.«
Sie betrachtete den Glaskasten im Regal, in dem das Fellknäuel apathisch in seiner Ecke kauerte. Langsam ergab das Ganze einen Sinn. Wollten die Entführer sie als Druckmittel gegen ihn benutzen?
Du bist so eine Idiotin! Was war, wenn diese Leute Pyschka gezwungen hatten, sie anzurufen? Und sie den Köder geschluckt hatte. Wie lange hatte Oleg ihr nachausspioniert, bevor er sich entschieden hatte, ein Teil davon zu werden? War ihr ganzes Scheißleben nur eine abgekartete Sache?
Oleg habe nicht auf eigene Faust gehandelt, hatte Nick gesagt. Sie dachte an das Whiteboard und das Chaos der Beschriftungen und Pfeile. Führten die Spuren nicht zum Perles d’Or ? Und was hieß das für Paschik – Pawel, korrigierte sie sich –, der einen Club in Deutschland besaß? Handelte er mit Mädchen? Konnte sie ihm wirklich noch vertrauen?
Pawel zog sein Handy aus der Tasche und betätigte eine Kurzwahl. »Ich rufe deinen Vater an«, murmelte er mit dem Telefon am Ohr. »Er wird sich freuen zu hören, dass du wohlauf bist.«
Ihr Vater – bei ihm in der Kurzwahl. »Kornej Sergejewitsch, ich hoffe, dass diese Nachricht sie bald erreicht. Juna ist hier. Es geht ihr gut.«
Aha. Doch bloß eine Mailbox? Das sah ihrem Vater ähnlich. Er ging nie ran; wenn er es für nötig hielt, rief er zurück. Sein Handy blieb meistens ausgeschaltet, um nicht lokalisiert zu werden. Er war ein unverbesserlicher Paranoiker.
Paschik
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