Im Netz des Verbrechens
Bürgersteig wie das dekorierte Innere einer Einkaufspassage. Geradezu niedlich.
»Kaffee? Oder Tee?« Pawel hatte einen Platz gewählt, der am weitesten von der Straße entfernt war, und setzte sich so, dass er alles im Blick hatte. Byk hatte sich etwas abseits postiert und beobachtete die Passanten mit Argusaugen. Er flößte sichtlich Respekt ein, denn in seiner Nähe verstummten die Gespräche, um erst ein paar Schritte weiter fortgesetzt zu werden.
»Juna? Was möchtest du trinken?« Pawels Russisch rüttelte sie wach. Sie schämte sich ein bisschen der Sprache, als würde diese sie bloßstellen.
»Tee.«
Er übersetzte und übernahm auch die restliche Bestellung.
Juna registrierte die Kellnerin, die mit einem schmalen Block und einem Kugelschreiber über sie wachte; das Pärchen, das am Tisch herumturtelte; einen Pulk Mütter, die mit ihren Kinderwagen ein gutes Viertel der Fläche einnahmen und emsig ihre Cappuccinos löffelten. Ungeschminkt aber frisch. Wenn junges Mutterglück so aussah, war sie durchaus bereit, über Kinder nachzudenken. Bis jetzt war ihr Bild einer typischen Mutter eher von ausgemergelten Frauen geprägt, die einen viel zu großen Kinderwagen in einen viel zu überfüllten Bus zu zwängen versuchten.
Pawel nahm die Margerite und zwirbelte den Stiel zwischen den Fingern. »Sie liebt mich, sie liebt mich nicht.« In seinen Augen schimmerte es neckisch, als er an der Blume roch und enttäuscht eine Grimasse schnitt.
»Hast du es oft gemacht?«
»So ein Unsinn. Normalerweise weiß ich, woran ich bin. Mich kann man nicht an der Nase herumführen. Aber du, Juna – du bist mir ein Rätsel.« Er zupfte ein Blatt ab und ließ es zu Boden rieseln.
Juna schauderte. Es waren die Worte ihres Peinigers gewesen. Damals, im Lagerhaus. Du bist wahrlich ein Rätsel, Juna. Ich mag Rätsel.
»So?«, brachte sie kaum hörbar hervor.
Er zwinkerte ihr zu. »Sag es mir. Führst du mich an der Nase herum, Kleines?«
Betont gelassen bewegte sie die Schultern. »Das verrät dir doch gleich deine Blume, oder etwa nicht?«
Er lachte, seltsam freudlos, und warf die Margerite auf seine Serviette. »Genau das liebe ich an dir. Du kuschst vor niemandem. Hast deinen eigenen Kopf.« Sein Blick bannte sie. Die Augen sahen beängstigend leer aus. » Wenn kleiner Wind die kleine Flamme facht, so bläst der Sturm schnell Feu’r und alles aus. Das bin ich ihr, und so fügt sie sich mir «, rezitierte er mit einer entrückten, monotonen Stimme.
»Der Widerspenstigen Zähmung. Was willst du mir damit sagen?«
»Dass ich meine Widerspenstige schon noch zähmen werde. Ich war einmal sehr verliebt gewesen, weißt du? Und habe mich zum Idioten gemacht, nur um ein paar Augenblicke bei ihr sein zu können. Aber jetzt – jetzt hält mich keiner mehr zum Narren, das weißt du hoffentlich, oder?«
Der Pulk der Mütter lachte auf. Eine von ihnen schaukelte ihr Baby im Arm und schob ihm ohne hinzusehen ihre Brust in den Mund, während sie mit den anderen schäkerte. Es gehörte sich nicht, so offen hinzustarren, aber diese nackte Brust vom Babykopf verdeckt, bannte sie auf eine ganz besondere Weise. War es okay, sich so in der Öffentlichkeit zu entblößen? Die Mutter blickte zurück, und Juna suchte eilig nach einem anderen Objekt ihres Interesses.
Etwas weiter saß ein Mann mit Sonnenbrille. Die drei Stühle neben ihm waren frei geblieben, anscheinend traute sich niemand, sich dazuzusetzen. Oder war es hier einfach nicht üblich?
Die Kellnerin brachte den Tee, Brötchen, Minipackungen mit Marmelade, Pflaumenmus, Honig und dazwischen etwas Obst. Juna wartete, bis die Frau wieder gegangen war, gab einen Löffel Zucker in ihre Tasse und rührte mit Bedacht um. Nick brauchte Zeit, also musste sie versuchen, Pawel in ein echtes Gespräch zu verwickeln. »Erzähle mir über die Krähe .«
War ihr Vater wirklich die Krähe ? So ganz konnte sie es immer noch nicht glauben.
»Kleines. Du solltest dir nicht so viele Gedanken machen. Solange ich in deiner Nähe bin, kommt keiner an dich heran, das verspreche ich dir.«
»Ich will endlich wissen, mit wem wir es hier zu tun haben.«
»Er ist ein Phantom. Niemand hat ihn wirklich gesehen, sein Wille ist unbeugsam und seine Befehle Gesetz. Er beherrscht hier alles und …«, Pawel nippte an seinem Becher, »… er ist gefährlich.«
»Weißt du, was seltsam ist, Paschik? Die Entführer im Lager haben nach meiner Mutter gefragt. Warum?« Sie trank den Tee, ohne den Blick von ihm
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