Im Rausch der Freiheit
diesen Zeiten.« Sie schaute nachdenklich drein. »Ihr Vater war auf seine Weise ein bemerkenswerter Mann. Dass jemand wie Charlie ein Mädchen aus Brooklyn heiraten wollte, und dazu noch aus einer konservativ-jüdischen Familie, dazu gehörte damals schon was … Charlie war ein sehr aufgeschlossener Mensch.«
»Das war er wohl. Ich habe meinen Vater geliebt, aber ich schätze, ich war auch ein wenig von ihm enttäuscht. Ich fand, dass er nicht genug aus seinem Leben gemacht hat. Vielleicht wäre es ihm gelungen, wenn er Sie geheiratet hätte.«
»Wer kann das schon wissen?« Sarah Adler zuckte die Achseln. »Ich habe zu lang gelebt, um noch glauben zu können, dass sich voraussagen lässt, was ein Mensch tun wird. Aber das Buch Ihres Vaters wird noch lange gelesen werden. Man wird sich an ihn erinnern. Erinnert man sich an einen anderen Ihrer Vorfahren?«
»Vielleicht nicht.«
»Sie sind ihm ähnlich, wissen Sie. Sie erinnern mich sehr an ihn.«
»Ich glaube, wir sind sehr verschieden.«
Sarah Adler griff nach ihrem Aktenkoffer. Sie öffnete ihn und holte etwas heraus.
»Wissen Sie, was das ist?«, fragte sie.
»Sieht aus wie ein indianischer Gürtel.«
»Richtig. Ein Wampum-Gürtel.« Sie rollte ihn auseinander. »Schauen Sie sich das Muster an. Ist es nicht herrlich?« Sie betrachtete es. »Das Muster hat eine ganz bestimmte Bedeutung – auch wenn wir sie nicht verstehen –, und gleichzeitig ist es ein reines, abstraktes Kunstwerk. Wissen Sie, das war ein altes Familienerbstück. Und trotzdem hat Charlie es mir geschenkt. Er ließ es rahmen, aber der Rahmen ist ziemlich sperrig, deswegen habe ich den Gürtel herausgenommen, um ihn Ihnen heute Morgen mitzubringen. Ich finde, Sie sollten ihn haben.«
»Ich kann ihn unmöglich annehmen – es müssen ja so viele Erinnerungen für Sie daranhängen!«
»Tun sie auch. Trotzdem möchte ich, dass Sie ihn annehmen. Ich gebe ihn der Familie zurück, genauso wie Sie mir die Zeichnung zurückgeben.« Sie lächelte. »Der Kreis schließt sich.«
Gorham sagte nichts. Er musste plötzlich an die Lücke denken, die der Motherwell an der Wohnzimmerwand hinterlassen hatte, und fragte sich, ob der Wampum-Gürtel dort hinpassen würde. Er hatte da seine Zweifel. Dann kam ihm der Gedanke, dass er, sollte seine Ehe tatsächlich auseinanderbrechen, ohnehin nicht mehr viel von dieser Wohnzimmerwand zu sehen bekommen würde.
Sarah Adler betrachtete Gorham aufmerksam.
»Sie sehen nicht glücklich aus. Etwas in Ihrem Leben macht Ihnen zu schaffen.«
»Vielleicht.«
»Möchten Sie mit mir darüber reden? Schließlich wäre ich um ein Haar Ihre Stiefmutter geworden.«
Gorham sagte sich, dass er – wenn er schon jemandem davon erzählen sollte – wahrscheinlich keinen besseren Zuhörer finden würde als diese kluge alte Frau, die seinen Vater geliebt hatte. Er brauchte nicht lang, um seine Situation zu schildern. Als er fertig war, schwieg Sarah eine Weile. Dann lächelte sie ihn an.
»Offenbar«, sagte sie freundlich, »hat Charlie also versagt.«
»Das Gefühl hatte ich schon immer. Nur: Haben Sie mir nicht gerade gesagt, dass er im Gegenteil erfolgreich gewesen sei?«
»Nein, ich meine damit nicht, dass er es nicht geschafft hat, Banker zu werden, oder was immer Sie meinen, das er hätte werden sollen. Ich meine, dass er es nicht geschafft hat, Ihnen irgendetwas beizubringen.« Sie seufzte. »Die vielen, vielen Wochenenden, wo er Sie regelmäßig von Staten Island abgeholt und Ihnen New York gezeigt hat. All die Mühe, die er sich gegeben hat, und Sie haben nicht das Geringste von der Stadt kapiert. Das ist traurig. Armer Charlie.«
»Ich verstehe nicht.«
»Der ganze Reichtum dieser Stadt. All das Leben. Die Zeitungen, die Theater, die Galerien, der Jazz, die verschiedensten Geschäfte und Aktivitäten. Es gibt fast nichts, was man in New York nicht finden könnte, und er wollte Ihnen das alles zeigen. Es kommen Menschen aus der ganzen Welt hierher, es gibt die verschiedensten ethnischen Gruppen und Kulturen, und von all diesem Überfluss interessiert Sie nur eine winzige Kleinigkeit: eine Bank zu leiten. Das ist nicht so interessant.«
»Was ich wohl von jeher gewollt habe, ist der finanzielle Erfolg, den man in New York findet. Das ist ein starker Antrieb.«
»Sie wissen sicher, dass es einen Dotcom-Boom gegeben hat – nur, dass er dabei ist, sich als eine Blase zu erweisen.«
»Wahrscheinlich.«
»Wissen Sie nicht, dass es noch eine weitere Blase gibt?
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