Im Rausch der Freiheit
der Bezahlung.
»Jetzt hat dein Vater dich freigekauft«, sagte ich zu meinem Sohn. Ich weiß nicht, ob es richtig oder falsch war, aber dieser Schritt bedeutete sehr viel für mich.
*
Das war vor zwei Jahren. Ich bin jetzt sechzig und damit älter, als viele Menschen – und weit älter als die meisten Sklaven – werden. In letzter Zeit lässt meine Gesundheit etwas zu wünschen übrig, aber ich denke, ich habe noch ein paar Jahre vor mir, und mein Geschäft floriert. Mein Sohn Hudson hat ein kleines Gasthaus direkt oberhalb der Wall Street, das gut läuft. Ich weiß, dass er lieber zur See gehen würde, doch mir zuliebe bleibt er und hat inzwischen eine Frau und einen kleinen Sohn, die vielleicht dafür sorgen, dass er dauerhaft an Land bleibt. Jedes Jahr gehen wir zum Geburtstag des jungen Dirk zu Juffrouw Clara, und ich sehe ihm zu, wie er den Wampum-Gürtel anlegt.
DAS MÄDCHEN AUS BOSTON
1735
Der Prozess würde am nächsten Tag beginnen. Die Jury hatte der Gou verneur persönlich zusammengestellt. Handverlesene Handlanger Seiner Exzellenz. Schuldspruch garantiert. Die erste Jury, heißt das.
Denn als die zwei Richter sie sahen, warfen sie – obwohl sie selbst mit Gouverneur Cosby befreundet waren – die Handlanger raus und fingen wieder von vorne an. Die neue Jury war sauber. Es würde eine faire Verhandlung geben. Britisches Fair Play. New York mochte zwar ein ganzes Stück von London entfernt liegen, aber es war und blieb schließlich englisch.
Die ganze Kolonie hielt gespannt den Atem an.
Unnötigerweise. Für den Angeklagten bestand nicht die Spur einer Hoffnung.
*
Der dritte Tag des Augusts, im Jahr des Herrn 1735. Das britische Empire genoss die Georgianische Ära. Denn nach Queen Anne war einem gleichermaßen protestantischen Verwandten, Georg von Hannover, der Thron angetragen worden; dem kurz darauf sein Sohn als Georg III. gefolgt war, der nunmehr über das Weltreich herrschte. Es war ein Zeitalter der Selbstsicherheit, der Eleganz und der Vernunft.
Der 3. August 1735 war in New York am Nachmittag heiß und feucht.
Über den East River hinweg betrachtet hätte es eine Landschaft von Vermeer sein können. Die lange, flache Flucht der fernen Werften – die noch immer Namen wie Beekman oder Ten Eyck trugen –, die steilen Stufengiebel, vierschrötigen Lagerhäuser und ankernden Segelschiffe boten ein friedliches Bild in der wässrigen Stille. Im Mittelpunkt des Panoramas schien der anmutige, schlanke Turm der Trinity Church dem Himmel einen Nadelstich verpassen zu wollen.
In den Straßen jedoch ging es alles andere als beschaulich zu. Zehntausend Menschen lebten mittlerweile in New York, und die Stadt wuchs von Jahr zu Jahr. Die Wall Street, die dem Verlauf der ehemaligen befestigten Nordgrenze der Siedlung folgte, lag jetzt schon mitten in der Stadt. Westlich des Broadway gab es noch gepflegte holländische Gemüse- und Blumengärten, aber auf der Ostseite standen die Holz- und Backsteinhäuser dicht aneinandergedrängt. Fußgänger mussten sich an Vortreppen und Ständen, Wasserfässern und schwingenden Fensterläden vorbeischlängeln und den Rädern der Karren ausweichen, die die unbefestigte oder kopfsteingepflasterte Fahrbahn entlang zum lärmenden Markt fuhren.
Aber das Schlimmste war die übel riechende Luft. Pferdeäpfel, Kuhfladen, Schmutzwasser aus den Häusern und Müll und Dreck, tote Katzen und Vögel, Exkremente jeglicher Provenienz lagen auf dem Boden verstreut und warteten darauf, dass der Regen sie fortspülte oder die Sonne sie ausdörrte. Und an heißen, schwülen Tagen entstieg dieser fauligen Schicht ein stinkender Brodem, der, in der Sonne gärend, Holzwände und -zäune hinaufkroch, Backstein und Mörtel durchtränkte, jede Bronchie erstickte, in den Augen brannte und bis zu den Giebeldächern emporwallte.
So roch New York im Sommer.
Aber bei Gott, es war britisch! Jemand, der die Stadt über den East River hinweg betrachtete, stand vielleicht in der Nähe des Dorfes Brooklyn (oder Breukelen, wie die vielfach noch Holländisch sprechenden Einwohner es nach wie vor nannten), doch er befand sich nichtsdesto weniger in Kings County, und die nächste Grafschaft flussaufwärts war Queens. Hinter der Insel Manhattan würde dieser Betrachter das Festland jenseits des Hudson sehen. Und für dieses Territorium hatte schon der englische König Karl II. in höchsteigener Person den Namen New Jersey gewählt.
In der Stadt selbst, besonders südlich der Wall Street,
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