Im Reich der Löwin
Bronzeklopfer dreimal gegen das massive Eichenholz hatte fallen lassen, öffnete sich die Tür und eine silberblonde junge Frau strahlte ihn an. »Wie schön, Euch wiederzusehen«, hauchte sie mit einem verführerischen Augenaufschlag. Das durchscheinende Gewand , das kaum ihre Brustwarzen bedeckte, ließ der Phantasie wenig Spielraum. »Tretet ein.«
Poitiers, Weihnachten 1195
»Wer nach dem wahrhaft Guten von ganzem Herzen strebt, dem wird Ansehen von Gott und den Menschen als sicherer Lohn zuteil. Ein Beweis dafür ist der edle König Artus, der mit ritterlichem Geist es verstand, Ruhm zu erringen. Zu seiner Zeit hat er so vorbildlich gelebt, daß er den Kranz der Ehren damals trug, wie auch jetzt noch sein Name ihn trägt. Darum haben seine Landsleute recht, wenn sie sagen, er lebe noch heute.«
Wenngleich sie das Epos ihres Sohnes bereits zum zweiten Male von Anfang bis Ende gelesen hatte, konnte Alys von Frankreich die Abschrift, die er ihr als Geschenk hatte zukommen lassen, nicht aus den Händen legen. Kaum hatte Henry erfahren, dass seine Mutter über Weihnachten zu Gast in Poitiers sein würde, hatte er einen der Mönche gebeten, ihm dabei zu helfen, sein Werk zu kopieren, um es seiner Mutter nach dem Vortrag der ersten einhundert Zeilen feierlich überreichen zu können. Was die prunkvoll illustrierte Handschrift ihn gekostet haben mochte, wagte sie sich gar nicht auszumalen. Doch offenbar war der Sold, den ihre beiden Sprösslinge als Knappen erhielten, ausreichend, um sich solch einen Luxus leisten zu können. Nur mühsam hielt sie die Tränen zurück und fuhr mit dem Finger über das Pergament, das in seiner Farbpracht beinahe den Eindruck erweckte, als würde es von hinten beleuchtet. Vermutlich hatte Henry ohnehin einen Großteil der Arbeit selbst getan. Schließlich hegte er – seit einer der Männer seines Bruders Geoffrey ihm im zarten Alter von fünf Jahren das Schreiben beigebracht hatte – eine Leidenschaft für die Kalligraphie, die seiner Begeisterung für die Dichtkunst beinahe gleichkam.
Was für wundervolle Söhne sie hatte! Sie hatte kaum ihren Augen trauen können, als sich die beiden in die Höhe geschossenen jungen Männer mit einem freudigen Lächeln vor ihr und ihrem Gemahl verneigt hatten. Erst in der Abgeschiedenheit ihres Gemaches hatte sie die Söhne überschwänglich in die Arme geschlossen. Roland hatte den jugendlichen Wilhelm von Ponthieu zuerst mit einem misstrauischen Stirnrunzeln bedacht; doch als der Graf ihn mit entwaffnender Zwanglosigkeit dazu aufgefordert hatte, sich die Etikette dorthin zu stecken, wo die Sonne nicht schien, hatte Roland wider Willen grinsen müssen und in die ihm dargebotene Hand eingeschlagen. Während Henry, der dank der Englandreise Robin of Loxleys eine Zeit lang sein eigener Herr war, mit seiner Mutter in der Festung zurückgeblieben war, hatten sich die beiden jungen Männer einer Jagdgesellschaft angeschlossen. Diese gedachte, für das Bankett am heutigen Abend das Wildbret beizusteuern. Voller Stolz malte sich Alys den prächtigen Hirsch aus, den die beiden zweifelsohne erlegen würden. Mit einem letzten Blick auf das Deckblatt der Erzählung schnürte sie diese sorgsam mit einem breiten Seidenband zusammen, verschloss sie in einer Buchenholztruhe und rückte ihr Gebende zurecht. Dann gesellte sie sich zu den anderen Damen, die im Grande Salle einem lautstarken Gesellschaftsspiel nachgingen. Auch wenn sie diese Versammlungen eigentlich verabscheute, freute sie sich dennoch darauf, einige Worte mit Aliénor von Aquitanien zu wechseln. Niemals würde sie die Güte und Warmherzigkeit der Königinmutter vergessen. Immerhin hatte diese Alys vor der Schande einer öffentlichen Trennung von ihrem damaligen Bräutigam, Richard Löwenherz, bewahrt, nachdem dessen Vater sie geschwängert hatte. Stattdessen hatte Aliénor die junge Frau in aller Stille in die Obhut von Geoffrey of York übergeben, nachdem Richard Löwenherz vor etwas mehr als fünf Jahren seine Verlobung mit Berengaria von Navarra bekannt gegeben hatte.
Als sie die Tür der Halle durchschritt, schlug ihr das Geschnatter der versammelten Hofdamen entgegen. Einige der Frauen hatten sich in kleinen Grüppchen zusammengetan, um das beliebte Nüssewerfen zu spielen. Auf dem frisch polierten Eichenboden waren in scheinbar willkürlichen Abständen kleine Pyramiden aus jeweils vier Walnüssen verteilt worden. Die gegnerischen Spielerinnen versuchten nun, diese mit ihren
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