Im Reich der Löwin
Wurfnüssen auseinanderzutreiben. Der Eindruck der Willkür entstand dadurch, dass die unterschiedlichen Gruppen verschiedene Abwurflinien gewählt hatten, die von den ausgelassen kichernden Mädchen und jungen Frauen nicht überschritten werden durften. Als Gegenpol zu diesem heiteren Zeitvertreib bildete ein Dutzend älterer Damen eine Insel der Ruhe vor dem prasselnden Kamin. »Alys.« Kaum hatte die Königinmutter die französische Prinzessin erblickt, winkte sie die Jüngere mit einer herzlichen Geste zu sich. Als ihr Gast in einen tiefen Knicks sinken wollte, schüttelte Aliénor von Aquitanien den Kopf und streckte ihr die Hände entgegen. »Seid willkommen, meine Liebe.« Ein warmes Lächeln ließ die Augen der alten Dame leuchten, als sie auf einen gepolsterten Schemel zu ihrer Rechten wies und Alys mit sanfter Gewalt darauf niederdrückte. »Ihr müsst mir unbedingt von Eurem jungen Gemahl berichten«, forderte sie verschmitzt.
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Während Rolands Mutter widerstrebend die neugierigen Fragen beantwortete, trabten ihr Sohn und Wilhelm von Ponthieu mit stolzgeschwellter Brust über die Zugbrücke der Grafenburg. Über den Hälsen ihrer Reittiere lag jeweils eine Hirschkuh, deren schlaffe Glieder im Rhythmus der Pferde mitschwangen, und an ihren Sattelknäufen baumelte ein halbes Dutzend Fasanen. Tote Augen spiegelten die milchig weiße Landschaft wider, über der sich mit wachsender Geschwindigkeit ein Schneesturm zusammenbraute. »Wir haben keine Minute zu früh kehrtgemacht«, beschied Wilhelm mit einem kurzen Seitenblick auf seinen Begleiter. »Es wird nicht mehr lange dauern.« Da er die schwarze, von Norden her über die Grafschaft ziehende Front ebenfalls misstrauisch beäugt hatte, nickte Roland zustimmend. Gerade als die ersten dicken Flocken zu fallen begannen, ritten die Männer in die Sattelgasse des unteren Stallgebäudes ein, in der eine ganze Schar Knechte damit beschäftigt war, die Boxen mit frischem Stroh zu füllen. Während Wilhelms Hengst von seinem Knappen in Empfang genommen wurde, sattelte Roland seinen Apfelschimmel selbst ab. Nachdem er sich mit einem kräftigen Handschlag vom Gemahl seiner Mutter verabschiedet hatte, rieb er das erhitzte Tier mit einem weichen Lappen ab, bis sein graues Fell im Licht der Fackeln glänzte. Mit einem letzten beruhigenden Tätscheln der Hinterhand beförderte er das Tier in seine Box. Dann versicherte er sich mit einem Seitenblick, dass der Steward sich um das erlegte Wild kümmerte, das die Jäger am Eingang abgelegt hatten, und schlenderte in den oberen Teil des Hofes, wo die hell erleuchteten Fenster des Grande Salle einladend die hereinbrechende Dämmerung erhellten.
Durch die Brechung des Glases wirkten die Frauengestalten dahinter seltsam verzerrt und unwirklich. Doch als sich einer der Schemen von einem kleinen, den Hof überblickenden Fensterchen löste und in Richtung Westen driftete, zog sich Rolands Magen ohne Vorwarnung krampfhaft zusammen. Einem Instinkt folgend, änderte er die Richtung und lenkte ebenfalls die Schritte nach Westen, wo wenig später eine junge Frau in den winterlichen Garten hinaustrat. Fröstelnd zog die Gestalt den Überwurf enger um die Schultern und schritt vorsichtig die Stufen auf den frostharten Boden hinab. Erst dann wandte sie sich – wie lauschend – um, sodass Roland ihr Profil erkennen konnte. Ein unbeschreibliches Gefühl umfing ihn, sobald er die fein geschnittene Nase über dem vollen Mund erblickte, um den in diesem Augenblick ein weltvergessenes Lächeln spielte. Schließlich drehte sie den Kopf etwas weiter zur Seite, und Rolands Puls machte einen Satz, als ihr Blick den seinen traf. Einen kaum wahrnehmbaren Moment lang schien sie ihn neugierig zu mustern, dann senkte sie den Kopf und kehrte ihm den Rücken. Mit fließenden Bewegungen raffte sie die Röcke und steuerte auf eine kleine Laube zu, deren Efeudach die immer dichter fallenden Flocken abhielt. Während er ihr mit den Augen folgte, beschleunigte sich Rolands Herzschlag weiter, da sie nach wenigen Schritten innehielt und einen scheuen Blick über die Schulter zurückwarf. Selbst aus der Entfernung konnte er die Röte sehen, die ihr in die Wangen stieg, als er unsicher die Hand zum Gruß hob. Da sie keine Reaktion zeigte, sondern den Weg zu der kleinen Laube fortsetzte, ließ er die Rechte zurück an seine Seite sinken und biss sich auf die Unterlippe. Lockte sie ihn? Oder würde er sich vollkommen zum Narren machen, wenn er ihr jetzt
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