Im Reich der Löwin
nachzudenken, riss sie die Tür auf und eilte den Korridor entlang, die Treppen hinab und über den einsam in der Morgendämmerung daliegenden Innenhof der Festung. Als sie die westliche Front des Haupthauses erreichte, raffte sie die Röcke und hastete durch den vor Kälte erstarrten Garten, an dessen östlichem Ende ein Durchgang zu dem Platz unter der Mauer führte. Bevor sie jedoch die Tür aufreißen und sich den beiden Männern nähern konnte, stieß sie mit drei Gestalten zusammen, die den Kreuzgang entlang in dieselbe Richtung stürmten. Ein harter Griff um die Taille verhinderte, dass sie das Gleichgewicht verlor. Als sie den erschrocken geweiteten Blick zu dem Besitzer der Pranken hob, wäre sie vor Erleichterung beinahe in Tränen ausgebrochen. Begleitet von seiner Mutter, Aliénor von Aquitanien, und dem Sänger Blondel, schien Richard Löwenherz ebenfalls dem grausamen Treiben ein Ende setzten zu wollen. »Sire«, stieß Jeanne mühsam hervor und rang zitternd die Hände. »Ihr müsst ihm helfen!« Ohne die Unverschämtheit des Imperativs mit einer Reaktion zu würdigen, stieß Löwenherz die junge Frau ungewohnt grob von sich und machte Anstalten, den so unverhofft unterbrochenen Weg fortzusetzen. »Mylord«, flehte Jeanne ein weiteres Mal und wollte vor dem König auf die Knie fallen, als Aliénor sie sanft beim Arm griff. »Lass es gut sein, mein Kind«, warnte sie eindringlich. »Der König ist heute nicht in bester Stimmung.« »Aber Mylady«, protestierte die Großnichte der alten Dame, doch der mit einer Zornesfalte zu ihr herumwirbelnde Richard unterbrach sie schroff: »Ohne Euch wäre der Bursche nicht in dieser Lage«, herrschte er das verschüchterte Mädchen an. »Ich warne Euch!« Die steile Falte zwischen den Brauen des Königs wirkte, wie mit einem Messer gezogen. »Wenn Ihr meinem Befehl zuwiderhandelt und Euch dem Grafen von Blois nicht von Eurer charmantesten Seite zeigt, werde ich auch Euch bestrafen lassen, dessen seid sicher!« Ohne auf eine Antwort der erbleichten jungen Frau zu warten, gab er seiner Mutter und dem Barden mit einer ungeduldigen Geste zu verstehen, ihm zu folgen, wandte Jeanne den Rücken und eilte mit ausgreifenden Schritten auf eine Treppe zu, die auf die Zinnen führte.
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Während die vor Schreck erstarrte junge Frau dem Kleeblatt sprachlos hinterherstarrte, folgte Aliénor von Aquitanien ihrem Sohn mit einem fragenden Seitenblick auf Blondel, der hilflos die Schultern hob. Nahe der hüfthohen Brustwehr trat sie an seine Seite. Unten auf dem verschneiten Grün holte Mercadier soeben erneut aus, um weiter auf Roland einzuprügeln. Ohne einen Laut von sich zu geben, krümmte sich der junge Mann zusammen und trotzte der Gewalt »Denkst du nicht, dass es genug ist?«, fragte die Königinmutter schließlich ruhig. Als sie keine Antwort erhielt, setzte sie hinzu: »Dass deine Wahl auf Ludwig von Blois gefallen ist, war gut. Immerhin ist er mein Enkel.« Ein ungewolltes Lächeln trat bei dem Gedanken an den Sohn ihrer Tochter aus der ersten Ehe mit König Ludwig von Frankreich auf ihre faltigen Züge. Das letzte Mal, als sie den kleinen Grafen gesehen hatte, hatte er gerade den Umgang mit dem Holzschwert erlernt. »Sicherlich wird Jeanne mit ihm irgendwann glücklich werden.« Richard schnaubte. »Als ob mich das auch nur im Geringsten interessieren würde«, knurrte er unwillig und nickte, als Mercadier ihm einen fragenden Blick zuwarf. Dieser verabreichte Roland daraufhin einen Schlag, der weithin zu hören war. »Aber der Junge da unten ist immerhin dein eigen Fleisch und Blut.« Ihre Stimme hatte einen bittenden Unterton angenommen. Mit zornig zusammengekniffenen Augen fuhr Richard zu ihr herum und stach ihr den behandschuhten Zeigefinger in die Schulter. »Mein eigen Fleisch und Blut, ja. Allerdings muss dem Bengel dringend ein bisschen Respekt eingebläut werden!« Sanft legte sich Blondels Hand auf seinen muskulösen Unterarm. »Lasst es gut sein«, bat nun auch der Barde, dessen Lippen blau waren vor Kälte. »Bestraft ihn nicht zu hart für die Sünden Eures Vaters.« Jeder andere hätte für diese Bemerkung auf der Stelle den Kopf verloren. Doch anstatt seinem Liebhaber den Dolch an die Kehle zu setzen, blinzelte Richard Löwenherz betroffen und ließ die zum Gürtel zuckende Rechte sinken. Nach einigen spannungsgeladenen Augenblicken holte er einige Male tief Luft, stemmte die Fäuste auf die Zinnen und donnerte: »Es ist genug,
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