Im Reich der Löwin
kleine Aliénor soeben ihre Finger grub. Wie gerne er es der Kleinen gleichtun würde!, schoss es Guillaume durch den Kopf, und er spürte, wie Erregung und Verlangen in ihm aufstiegen. Als er die Lider jedoch ein wenig hob, fing er das warnende Funkeln des Steward s auf, der ihn seit seiner Ankunft nicht aus den Augen gelassen hatte. Das würde noch warten müssen, bis die Zeit für Vergeltung gekommen war. Wie viel vollkommener würde seine Rache an Harold sein, wenn er ihm zu den Gütern noch Weib und Kind raubte! Mit einem geheuchelten dankbaren Nicken nahm er an der Längsseite des großzügigen Tisches Platz, wo eine Küchenmagd soeben eine Auswahl einfacher Speisen auftrug. Catherine ließ sich – ihre Stellung als Herrin des Hauses unterstreichend – an dem etwas erhöhten Kopfende der Tafel nieder und musterte ihn eindringlich, derweil er schweigend die dampfende Suppe löffelte und die Schale mit Brot auswischte. »Alan wird Euch zu Eurer Unterkunft führen«, verkündete sie schließlich, nachdem Guillaume den mit Ale gefüllten Becher abgesetzt hatte. »Ihr werdet im Unterhof wohnen.« Damit erhob sie sich, nickte ihm kurz zu und verschwand durch eine Tür am östlichen Ende der Halle. »Kommt«, brummte der graumelierte Alan, der sich wenig Mühe gab, seine Abneigung für den Bruder seines Herrn zu verbergen. Während Guillaume noch mit der Wut über die Demütigung rang, mit den anderen Dienstmannen des Earls in einem Gebäude schlafen zu müssen, trat der Steward bereits in den sonnendurchfluteten Innenhof der Festung.
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In ihren Gemächern angekommen, knallte Catherine erzürnt die Tür hinter sich zu – froh, ihre Tochter in die Obhut der Amme übergeben zu haben. Wie konnte Harold ihr das nur antun?! Nach all dem, was er ihr über Guillaumes Ränkespiele und den vermutlichen Verrat an seinem Vater berichtet hatte? Bebend vor Zorn und Empörung, zog sie den kurzen Brief ihres Gemahls aus dem Ärmel, um ihn ein weiteres Mal zu lesen.
»Meine geliebte Catherine,
ich weiß, dass du mir zürnen wirst, wenn du diese Zeilen liest, aber ich habe meine Gründe. Sorge dafür, dass Guillaume stets unter Alans Aufsicht steht, auch wenn er in dem Glauben bleiben soll, freie Hand zu haben. Es ist eine Feuerprobe, und ich bin mir der Gefahr wohl bewusst, die mein verräterischer Bruder darstellt. Ich habe einen weiteren Brief an FitzGerald, den alten Vertrauten meines Vaters, geschickt. Er wird Guillaume in Leicester im Auge behalten.
Sollte irgendetwas vorfallen, das deinen Unwillen erregt, lass es mich sofort wissen; ich werde dann mit Freuden Abhilfe schaffen. Es ist seine letzte Chance, sich zu bewähren, doch die musste ich ihm geben – das bin ich unserem Vater schuldig.
Ich kann es kaum erwarten, dich und die Kinder wiederzusehen. Ich hoffe, ihr seid alle wohlauf.
In Liebe.
Harold
Obgleich sie ihn am liebsten verflucht hätte, traten Catherine bei dem letzten Satz brennende Tränen in die Augen. Wie sehr er ihr fehlte! Mit einem trockenen Schluchzer schleuderte sie die Nachricht achtlos auf ihr breites Bett und vergrub das Gesicht in den Händen. Wenn dieser furchtbare Krieg doch nur schon vorbei wäre!, dachte sie bitter. Und dabei hatte er noch nicht einmal richtig angefangen!
Als sich bereits die Dämmerung über die frühsommerliche Landschaft senkte, setzte sie sich mit einem Schniefen auf, putzte sich energisch die Nase und schalt sich eine überreizte Närrin. Wenn ihr Gemahl so viel Vertrauen in sie und ihre Helfer hatte, dass sie Guillaume von seinen üblen Ränkespielen würden abhalten können, dann würde sie gewiss nicht schon vor Beginn dieser Prüfung die Waffen strecken! Mit einem Straffen der Schultern kam sie auf die Beine und trat an eines der Fenster ihres Gemaches, das den Blick freigab auf den Innenhof der Ringburg. Dort – begleitet von den anfeuernden Rufen ihrer Kameraden – probten die jungen Männer, die darauf brannten, auch bald in den Krieg gegen den französischen König zu ziehen, den Nahkampf mit Schwert und Morgenstern. Versonnen verfolgte Catherine, wie einer der Kämpfer seinen Gegner mit einem geschickt geführten Hieb entwaffnete und in die Knie zwang, bevor er dem Burschen lachend auf die Beine half und auf die Schulter drosch. »Beim nächsten Mal«, tröstete der aschblonde Bezwinger den Verlierer und hob erneut die Waffe, um sich gegen den nächsten Herausforderer zu verteidigen. Ob ihr Sohn wohl auch zu einem geschickten
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