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Im Saal der Toten

Im Saal der Toten

Titel: Im Saal der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linda Fairstein
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Besuchen im Medizinischen Institut viele Skelette gesehen. Aber diese Situation war anders, unheimlicher, weil ich mich fragte, welche natürlichen oder unnatürlichen Umstände dazu geführt hatten, dass dieser arme Mensch hier seine letzte Ruhestätte fand.
    »Kannst du was sehen?«, fragte Mike.
    »Noch nicht.« Andy nahm die Kamera und machte noch mehr Fotos, darunter Nahaufnahmen des Skeletts in seiner ganzen Länge. »In Ordnung, Leute, jetzt geht’s los.«
    Andys Assistenten nahmen Mikes und meinen Platz ein. Einer hielt die Arme, der andere den Schädel, während Andy den Unterleib stützte. Zusammen hoben sie das Skelett behutsam aus seiner Ziegelnische und legten es der Länge nach auf das Tuch. Dabei fielen einige Beinknochen klappernd in den Ziegelschacht. Andy holte sie einzeln hinter der Mauer hervor, kniete sich neben das Tuch und vervollständigte konzentriert das menschliche Puzzle.
    »Als Erstes werden wir deinem Kumpel einen neuen Namen geben, Mike«, sagte Andy und setzte sich auf die Fersen.
    »Warum?«
    »Weil ich glaube, dass er eine Sie ist.«
    »Aha! Das hab ich mir fast gedacht. Andererseits wurde mir auch schon gesagt, dass man eine Lupe braucht, um meine besten Teile zu sehen.«
    »Die Hüften haben sie verraten.«
    »Wie das?«
    »Seht ihr hier, diese Verbreiterung?« Andy zeigte mit dem Finger auf die Beckenknochen. »Die Natur hat das so eingerichtet, um Frauen das Gebären zu erleichtern. Die Ischiaskerbe vergrößert sich während des Heranwachsens, und die Hüfte wird breiter, damit ein Fötus darin Platz hat. Seht euch außerdem die Stirn an!«
    »Was ist damit?«
    »Vertikal. Ganz gerade. Männer haben in der Regel eine schrägere Stirn und einen Wulst über den Augenhöhlen, während Frauen meist eine ganz gerade Stirn haben.« Er wandte sich an einen seiner Assistenten. »Kann ich bitte die große Taschenlampe haben?«
    »Wonach suchst du?«, fragte Mike.
    »Ihr wollt doch wissen, mit wem wir es hier zu tun haben, nicht wahr? Das Geschlecht steht schon mal fest. Jetzt müssen wir noch Alter, ethnische Herkunft und Größe herausfinden – irgendetwas, das uns ein paar Anhaltspunkte für die weiteren Ermittlungen gibt.«
    »Wie wär’s mit einer Zeitangabe, wann sie hinter der Mauer verschwunden ist?«
    »Bin gerade dabei.« Andy leuchtete mit der Taschenlampe langsam über den rauen Holzboden hinter dem noch verbliebenen niedrigen Mauerstück.
    Er hob ein paar winzige sepiafarbene Bröckchen auf, die sich farblich kaum von dem braunen Boden abhoben, besah sie von allen Seiten und legte sie dann neben die fingerlosen Hände. »Wahrscheinlich Fingerknochen. Die Zehen sind auch noch da. Die Kamera, bitte.«
    Ein Assistent reichte Andy den Apparat. Nachdem er die Fotos gemacht hatte, griff er wieder hinter die Mauer, tütete eine Hand voll Mauerreste in einen Pergaminumschlag, studierte ihn und reichte ihn dann Mike. »Siehst du diese kleinen Stückchen da?«
    Mike bejahte.
    »Wahrscheinlich ihre Fingernägel. Schick sie zusammen mit einem der alten Ziegelsteine ins Labor. Ich wette fünfzig Mäuse, dass etwas von dem Bindemittel an ihnen klebt.«
    Mike sah Andy an. »Willst du damit sagen, dass die Dame an der Mauer gekratzt hat, um rauszukommen?«
    Andy nickte.
    »Du glaubst also, dass sie noch am Leben war, als sie eingemauert wurde? Allein auf Grund dessen, was sich deiner Meinung nach unter ihren Fingernägeln befindet?«
    Bei lebendigem Leib begraben. Bei dem Gedanken an ein derart entsetzliches Ende, an die Aussichtslosigkeit, mit der sie mit ihren zarten Fingernägeln an der Mauer gekratzt hatte, lief mir ein Schauer über den Rücken. Nan und ich sahen uns an.
    Mike löcherte indes Andy mit Fragen zu seiner Arbeitsweise.
    »Letztes Jahr fanden Bauarbeiter Knochen in einer Betonplatte, als sie in der Eighth Avenue einen Lagerraum für eine Pizzeria aushoben«, sagte Andy. »Das Mädchen hatte noch Haare auf dem Kopf und eine Fessel um die Handgelenke. Hey, kannst du davon eine Aufnahme machen?«
    Einer der Assistenten kam näher und richtete die Kamera auf etwas, das auf dem Boden lag.
    »Was ist das?«, fragte Mike.
    »Sieht nach einer Socke aus. Eine Männersocke. Ich hatte gehofft, es wäre etwas, das ihr gehörte.«
    Kleidungsstücke waren bei der Identifizierung äußerst hilfreich, erklärte Andy. Falls sie sehr alt waren oder besondere Merkmale aufwiesen, lieferten sie Anhaltspunkte bezüglich eines bestimmten Zeitraums. Bei neueren Sachen ließ sich dank Logos,

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