Im Schatten der Burgen: Ein historischer Kriminalroman aus der Eifel (German Edition)
konnte, was es war: ein etwa zwei Ellen langer Streifen schwarzen Stoffs. Er hob ihn auf und untersuchte ihn genauer. Es war ein dichtes, schweres Gewebe, das auf der einen Seite mit roter Stickerei verziert war. Er erinnerte sich jetzt an die beiden roten Fäden in Wilhelms Mund, als er den Leichnam untersucht hatte.
»Dies war der Knebel«, murmelte er vor sich hin. »Damit ist Wilhelm ruhiggestellt worden, als er zu schreien anfing.«
Und plötzlich wusste er auch, woher der Fetzen stammte. Er war aus dem Saum von Christinas schwarzem Kleid herausgeschnitten worden, das ihr vor einiger Zeit gestohlen worden sein sollte. Selbst die Gäste in der Gaststube hatten sich an das wertvolle, schöne Kleidungsstück erinnert.
Höchstwahrscheinlich war also eine Frau hiergewesen – eine, die Christinas Kleid getragen hatte. Aber eine Frau wäre kaum in der Lage gewesen, den kräftigen Wilhelm zu überwältigen, ihn hier aufrecht festzubinden und seine Leiche schließlich auf einen Karren zu hieven, um ihn fortzuschaffen. Allein bestimmt nicht. Wenn sie jedoch einen männlichen Helfer gehabt hatte …
Nikolaus zwang sich dazu, logisch zu denken und alle Gefühle, die ihn ablenken könnten, auszuklammern. Das schwarze Kleid sollte Christina gestohlen worden sein. Von wem hatte er das gehört? Nur von Isabe. Hatte sie ihn angelogen? Aber wieso hätte sie das tun sollen? Sie gehörte zu den wenigen, die sich über Christina nur nett geäußert hatten. Sie schien ein zu einfaches Gemüt und zu unbedarft, um Nikolaus so frech anzulügen. Aber hatte Christina ihrer Freundin die Wahrheit gesagt? Gab es einen Grund für sie, über den Verbleib des Kleides zu lügen? Das würde heißen, dass Christina den Mord an Wilhelm schon länger geplant hatte. Der Überfall auf sie, bei dem Nikolaus dann unfreiwilliger Zeuge geworden war, war der willkommene Anlass gewesen, ihren Plan in die Tat umzusetzen. Aber warum hatte sie ihr Messer so auffällig hinterlassen? Vielleicht hatte sie damit gerechnet, dass sie sowieso die erste Verdächtige sein würde. Um dem entgegenzuwirken, hatte sie diesen zu offensichtlichen Hinweis hinterlassen. Möglicherweise hatte sie mit dem aufkeimenden Mitleid der Leute gerechnet, die in Wilhelm den Bösewicht sahen und in ihr die zu unrecht Beschuldigte.
Und wer hatte Christina geholfen? Ihr unbekannter Bräutigam, der es dem Kerl heimzahlen wollte, der es gewagt hatte, sein Mädchen anzufassen? Von wem hatte Nikolaus die Sache mit Christinas geheimnisvollem Bräutigam? Auch von Isabe. Allerdings hatte niemand außer ihr von diesem Bräutigam gewusst. Spielte ihm Isabe das Dummchen nur vor und war selbst der Racheengel? Er stellte sich die junge Frau vor, die auch ohne Schwangerschaftsbauch kaum in der Lage gewesen wäre, in Christinas Kleid zu schlüpfen, und schüttelte den Kopf. Dieser Gedanke war ihm doch zu abwegig.
Aber angenommen, es gab diesen ominösen Bräutigam nicht, wer hatte Christina stattdessen geholfen? Dann blieb nur noch ihr Vater übrig. Nikolaus erinnerte sich an den Nachmittag, als er die junge Frau nach Hause begleitet hatte und Reginus und sie in Streit geraten waren. Gehörte auch das zu dem Schauspiel? Und aus einem Fenster hatten sie den gutgläubigen Trottel, der von Christinas Schönheit geblendet nur allzu schnell bereit gewesen war zu helfen, heimlich beobachtet und sich über ihn lustig gemacht. Nikolaus fühlte sich von der Vorstellung unangenehm berührt.
War Katharinas Sarg wirklich leer gewesen? Oder war das eines der Märchen, die in den Köpfen der Leute herumgeisterten? Konnte man seinen Tod vortäuschen? War Christinas unbekannter Komplize am Ende gar eine Frau? Die Mutter war der Feindseligkeiten überdrüssig geworden und war untergetaucht. Nun war sie wiedergekommen und half ihrer Tochter. Wo hatte sich Katharina all die Jahre versteckt?
Nikolaus schüttelte unwillig den Kopf. »Jetzt rede ich schon den gleichen Stuss.«
Wer kam sonst noch infrage? Natürlich waren da der Amtmann Thies und sein Onkel, der Großbauer Roden. Ohne Frage war es in ihrem Sinne, dass sie durch den geschickt arrangierten Mord auch gleich Christina loswurden. Doch wer war dann deren Komplizin? Gab es sie überhaupt? Oder war der Hinweis auf das Kleid nur ein weiterer trickreicher Beweis, um die junge Frau als Schuldige abzustempeln? Dies war kaum anzunehmen, da die leichtsinnig zurückgelassenen Riemen bewiesen, dass die Täter nicht damit rechneten, dass die Scheune als Tatort
Weitere Kostenlose Bücher