Im Schatten der Giganten: Roman
bedeutete das Ende meiner Bekanntschaft mit dem Hengst, an den ich mich zu gewöhnen begann und den ich, vielleicht in einer Art Delirium, »Lucky« genannt hatte. Im Castoval gab es nur wenige schwerere Verbrechen als Pferdediebstahl. Ein Mann konnte die Frau eines anderen entführen oder sein Gold entwenden und dennoch auf Gnade vor dem Gesetz hoffen. Aber wenn er mit einem Pferd erwischt wurde, das nicht ihm gehörte … Genauso gut hätte er sich selbst einsperren und den Schlüssel wegwerfen können. Deshalb wollte ich mich in Muena Palaiya nicht auf dem Rücken dieses Hengstes blicken lassen.
Ich wartete, bis die Straße breiter wurde. Hinter der nächsten Biegung erwartete mich eine Gabelung: Der eine Weg führte weiter am Kliff entlang zu den Toren von Muena Palaiya, während sich der andere nach Westen wandte und einen Bogen um die Stadt machte. Vor den Toren erstreckte sich eine offene Graslandschaft mit vereinzelten Bäumen, wo Reisende lagerten, die sich die lokale Gastfreundschaft nicht leisten konnten. Dort gab es kaum Deckung – von der Stadt aus würde man mich schon von Weitem sehen. Ich wollte keine Fragen beantworten müssen oder riskieren, alten Bekannten zu begegnen, die mich wahrscheinlich sofort verhaften lassen würden. Ebenso wenig wollte ich, dass mich jemand identifizierte, der Moaradrids Soldaten einen Tipp geben oder meine Präsenz in der Stadt bestätigen konnte. Glücklicherweise kannte ich einen anderen Weg hinein. Er mochte schwieriger sein, bot dafür aber weitaus mehr Diskretion.
Kurz vor der Biegung stieg ich ab, ächzte dabei ein wenig und klopfte dem deprimierten Ross aufs Hinterteil. »Lauf, Lucky! Leb dein Leben. Du bist frei!«
Der Hengst starrte mich mit geröteten Augen an, ging dann zur gegenüberliegenden Straßenseite und begann dort zu grasen.
Ich merkte, dass es mir ziemlich schlecht ging. Zweifellos lag es an der Mischung von anstrengendem Reiten, wenig Nahrung und Wasser, verlorenem Blut und dem allgemeinen Stress der Nacht. Meine Stirn war klebrig, der Mund trocken, und selbst bei kurzen Schritten wurde mir schwindelig. Mehrmals sagte ich mir, dass ich viel schlimmer dran gewesen wäre, wenn mich Moaradrids Häscher erwischt hätten.
Halb ausgetrocknete Büsche und bleiche Olivenbäume säumten den am Kliff vorbeiführenden Weg und gewährten reichlich Sichtschutz. Als ich dort unterwegs war, hörte ich erneut das Getrappel von Hufen – das Geräusch erschien mir bereits so vertraut, dass es mich kaum mehr erschreckte. Ich zwang mich zur Eile, brachte die Biegung hinter mich und sah die nördliche Mauer von Muena Palaiya in Form von elfenbeinfarbenen Flecken durch Lücken im Blattwerk. Ich setzte den Weg fort, manchmal auf allen vieren, was nicht nur unbequem, sondern auch schmerzhaft war.
Leider kam ich nur langsam voran und holte mir zahllose Kratzer. Mein Mantel bekam Risse und steckte schon nach kurzer Zeit voller Dornen. Das Trampeln der Hufe hinter mir wurde immer lauter und hörte dann plötzlich auf – vermutlich hatten die Reiter dort angehalten, wo mein Pferd zurückgeblieben war. Kurze Zeit später erklang es erneut, und mir schien, dass es neue Entschlossenheit zum Ausdruck brachte.
Ich hatte unterdessen den größten Teil des offenen Bereichs umgangen. Deutlich sah ich das eisenbeschlagene hölzerne Tor, das zu dieser frühen Stunde noch geschlossen war, und auch eine einzelne Gestalt auf dem Wehrgang darüber. Der Wächter sah nach unten und zeigte auf etwas, zum Glück nicht auf mich.
Ich hatte auch die Stelle erreicht, die ich hatte erreichen wollen, und beschloss, eine kurze Pause einzulegen. Was sich als Fehler erwies. Als ich zu kriechen aufhörte und liegen blieb, war die Erschöpfung fast überwältigend.
Wenigstens hatte ich einen guten Blick von dort, wo ich lag. Durch eine Lücke zwischen den Blättern und Dornen konnte ich über die Grasebene vor dem Tor hinweg eine Gruppe von Reitern beobachten. Es waren etwa fünfzig, und ständig kamen weitere hinzu. Wollten sie Muena Palaiya angreifen? Das wäre selbst dann schwer für sie gewesen, wenn die dortige Garnison nicht vollständig war. Die dicken, stabilen Mauern der Stadt ließen sich leicht verteidigen.
Jedenfalls saß ich viel zu sehr in der Klemme, als dass ich meine Pläne ändern konnte. Vielleicht glaubten die Verfolger, dass ich mich bereits in der Stadt befand, aber ich hielt es für wahrscheinlicher, dass sie beschlossen, in der Umgebung nach mir zu suchen. Mühsam
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