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Im Schatten der Giganten: Roman

Im Schatten der Giganten: Roman

Titel: Im Schatten der Giganten: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Tallerman , Andreas Brandhorst
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zum Narren halten ließ.
    Niemand erschien vor mir. Nichts bewegte sich. Ich sah nur die Zelte, die einen weiten Kreis bildeten, und zwischen ihnen Lagerfeuer, bei denen Männer lagen. Abgesehen von einem gelegentlichen Schnarchen oder Brummen herrschte gespenstische Stille. Es hatte geregnet, während ich in den Höhlen gewesen war, und die Luft roch frisch, nur wenig nach dem Schweiß ungewaschener Kämpfer und gekochtem Fleisch.
    Es war zu schön, um wahr zu sein. Bestimmt wurde ich beobachtet. Alle meine Diebesinstinkte warnten mich. Dennoch ging ich weiter, in Richtung Lagermitte. Wenn die Soldaten versuchen würden, mich gefangen zu nehmen … Für den Fall beschloss ich loszurennen, damit sie von Pfeil und Bogen Gebrauch machten, denn ich wollte ihnen nicht lebend in die Hände fallen. Seit zwei Tagen war mir Moaradrid auf den Fersen. Diesmal würde er mich nicht mit dem Dienst in einer Freiwilligenbrigade davonkommen lassen.
    Nach einer Weile glaubte ich Salzleck zu erkennen – er hockte noch immer neben dem Baum, den ich oben von der Felswand gesehen hatte, am Rand des Lagers, vielleicht wegen seines besonderen Geruchs, der mir oft aufgefallen war. Noch etwas weiter außerhalb sah ich Vorratszelte und Pferche, und dahinter erstreckte sich die Linie der Wächter und Wachtposten. Dort gab es freie Sicht und jede Menge Mondschein für die Bogenschützen, und ich fragte mich erneut, wie wir entkommen sollten. Der Plan erschien mir nicht weniger grotesk als zuvor.
    Positiv zu vermerken war, dass ich in der Nähe von Salzleck keine Wächter erkennen konnte. Als ich näher kam, wurde mir klar, dass er auch gar nicht bewacht werden musste, denn er war mit großer Sorgfalt gefesselt. Man hatte ihm die Arme hinter dem Baum festgebunden und das Seil zahllose Male um den Körper geschlungen, von der Taille bis zum Hals. Er konnte den Kopf bewegen und vielleicht auch die Finger, aber mehr nicht. Ich fürchtete, den Rest der Nacht benötigen zu müssen, um ihn loszuschneiden.
    Ich näherte mich ihm von vorn – für irgendwelche Listen war es jetzt zu spät. Niemand kam herbeigelaufen. Entweder hatte ich mich geirrt und es beobachtete mich niemand, oder meine Verkleidung funktionierte. Schon früh in meiner Karriere als Dieb hatte ich gelernt: Wenn man an einem bestimmten Ort nicht ganz und gar fehl am Platz wirkte, so nahmen die anderen in neun von zehn Fällen an, dass man sich zu Recht dort aufhielt. Selbst mein Interesse an Salzleck würde für sich genommen keinen Verdacht erregen. Nicht alle Männer in Moaradrids Diensten hatten jemals einen Riesen aus der Nähe gesehen; vermutlich wurde er immer wieder angestarrt.
    Was mich mehr beunruhigte, war der Umstand, dass Salzleck kaum aufsah, als ich mich ihm näherte. Grässliche Möglichkeiten kamen mir in den Sinn. Hatten sie ihm die Augen ausgebrannt oder ihn so sehr geschlagen, dass er vollkommen stumpfsinnig geworden war? Als ich noch etwas näher kam, stellte ich fest, dass meine Vermutungen nicht so weit von der Wahrheit entfernt waren. Keine seiner Wunden war tief oder stellte eine Verstümmelung dar, aber nur deswegen, weil die Peiniger vor allem Schmerz im Sinn gehabt hatten und nicht unbedingt dauerhafte Schäden. Überall gab es Schnitte, an Armen und Beinen wimmelte es von blauen Flecken, und ich sah sogar einige scheußliche Verbrennungen. Es war ein halbherziger Versuch unternommen worden, die Wunden zu reinigen, aber Verbände fehlten völlig. Hier und dort quoll noch immer Blut hervor.
    »Salzleck.«
    Ihn so zu sehen … Mir kamen fast die Tränen. Es war ein schrecklicher Anblick, und damit meine ich nicht nur die Verletzungen, sondern auch seine Hilflosigkeit.
    »Ich bin gekommen, um dich zu retten, Salzleck.«
    Abgesehen vom kurzen Zucken eines Ohrs erfolgte keine Reaktion. Hatten ihm einige der Schläge das Gehör geraubt? War ihm gar die Zunge aus dem Mund geschnitten worden?
    »Salzleck, alter Freund?«
    Ich bildete es mir nicht nur ein: Der Riese neigte ein wenig den Kopf. Er hatte mich gehört!
    »Alter Kumpel?«
    »Geh weg.«
    Die Worte begannen als tiefes Grollen und endeten in einem Flüstern, wie ein umgekehrter Erdrutsch.
    »Salzleck?«
    »Allein lassen.«
    Ich konnte es nicht glauben. Hier war ich und riskierte mein Leben, und dafür bekam ich solchen Dank? Na schön, vielleicht war ich an seinem gegenwärtigen Zustand nicht ganz unschuldig, aber immerhin hatte ich ihn ganz zu Anfang aus der Sklaverei befreit. Verdiente ich dafür nicht

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