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Im Schatten der Giganten: Roman

Im Schatten der Giganten: Roman

Titel: Im Schatten der Giganten: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Tallerman , Andreas Brandhorst
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während ich den Wagen ganz langsam durch die Kurve lenkte.
    Als der Weg wieder gerade wurde, sah ich das Castoval ausgebreitet unter mir. Muena Palaiya mit seinen kalkweißen Dächern lag vor uns am Hang – aus dieser Entfernung gesehen wirkte die Stadt trotz ihrer hohen Mauern winzig. Auf ihrer südlichen Seite erstreckten sich die Terrassen von Weinbergen und kleinen Bauernhöfen. Hinter der Straße auf der westlichen Seite reichte der Hang steiler nach unten, zum Waldland und dem Casto Mara, der grau und schäumend im prasselnden Regen dahinfloss.
    Ich hob den Blick und richtete ihn nach rechts. Der hinter uns liegende Weg war nur teilweise zu sehen: ein dunkles Band, das sich an den Berg klammerte. Auf diesem Band erkannte ich ein ganzes Stück entfernt kleine Gestalten, die in unsere Richtung krochen. Einzelheiten blieben mir verborgen, aber die waren auch gar nicht nötig. Ich wollte der Karawane hinter mir gerade eine Warnung zurufen, als mich eine Art Vorahnung veranlasste, den anderen, nach Muena Palaiya führenden Abschnitt der Straße zu beobachten. Daraufhin blieb mir der Ruf im Halse stecken. Auch dort zeigten sich Gestalten, die uns entgegenkrochen.
    Estrada wählte genau diesen Moment, wieder neben mir Platz zu nehmen. Sie sah mich verwundert an – der Wagen war fast zum Stehen gekommen – und folgte dann meinem Blick.
    »Sie haben uns gefunden!«
    Es war erstaunlich, was diese vier Worte mit Estradas kleiner Streitmacht anstellten. Man konnte kaum glauben, dass es dieselben Männer waren, die noch vor einigen Minuten gesungen und gescherzt hatten und sich gegenseitig auf die Füße getreten waren. Der Ärger der Fischhändler verwandelte sich in Sorge, als aus dem langsamen Geschlurfe des ungeordneten Haufens plötzlich eine marschierende Kolonne wurde, als sich Reiter und Wagenlenker beeilten, die langsamen Verwundeten hochzuheben.
    Genau in diesem Augenblick flackerte ein Blitz am dunklen Himmel über uns, und ihm folgte ein so gewaltiges Donnern, dass der Boden unter uns erbebte. Eine flüssige Wand fiel so abrupt wie ein Vorhang. Plötzlich reduzierte sich die Welt auf die Straße unter uns und den Regen, der so heftig fiel, dass man meinen konnte, wir stünden in einem Fluss.
    Estrada trieb die Pferde an, die den Wagen daraufhin etwas schneller zogen. Weiter vorn ließ sich überhaupt nichts mehr erkennen. Die beiden von Moaradrid ausgeschickten Soldatengruppen waren nicht mehr zu sehen, ebenso wenig der hintere Teil unserer Karawane. Zwar dauerte es noch eine Weile bis zum Abend, aber plötzlich war es so dunkel wie in einer Nacht ohne Sterne – wenn nicht gerade blauweiße Blitze gleißten.
    Als das Donnern verhallte, hörte ich das Poltern der Wagen, das Wiehern der Pferde und Salzlecks stapfende Schritte neben uns. Wir waren nicht sehr schnell, aber ich befürchtete trotzdem, dass wir jeden Moment über den Rand des Weges stürzten. Ich schloss die Finger fest um die Kante der Sitzbank, starrte in die Dunkelheit und zuckte bei jedem Blitz und Donnern zusammen.
    Es erschien mir wie ein Wunder, dass wir den Talboden heil erreichten. Noch seltsamer war es zu beobachten, wie unsere Gruppe hinter uns aus dem Regen kam, ein Bataillon nasser Geister. Alle hatten es in einem Stück geschafft, soweit ich das feststellen konnte. Es dauerte nicht lange, bis sie uns alle umringten und die Kreuzung mit der Bergstraße von Muena Palaiya und den übrigen Gebieten des Castoval blockierten. Mounteban ragte neben uns auf und schüttelte sich Wasser aus dem Bart.
    »Moaradrids Halunken sind nahe!«, rief er.
    »Ich weiß. Jetzt oder nie.«
    »Die Leute sind nicht bereit. Es wird nicht klappen.«
    »Uns bleibt keine Wahl.«
    Mounteban nickte nur.
    Estrada stand auf – ihre Silhouette, von Regen gepeitscht, zeichnete sich vor dem dunklen Himmel ab. So laut wie möglich rief sie: »Wenn wir warten, erwischen sie uns! Wir müssen uns hier aufteilen. Ihr habt eure Anweisungen. In vier Tagen treffen wir uns am vereinbarten Ort – oder das Castoval ist verloren. Von jetzt an ist jeder auf sich allein gestellt. Viel Glück!«
    Die Jubelrufe, die Estradas Worten folgten, klangen seltsam wild in diesem Unwetter. Fast sofort zerstreuten sich die Leute, wie von unsichtbaren Kräften fortgezogen. Estrada setzte sich wieder, griff nach den Zügeln und trieb erneut die Pferde an. Mounteban, seine Reiter und die meisten Leute in der Nähe folgten uns.
    In der Ferne, vom Prasseln des Regens kaum zu unterscheiden,

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