Im Schatten der Königin: Roman
nichts Wichtigeres geben«, sagte sie, und ihre kühle Stimme trug mühsam zurückgehaltenen Zorn in sich. Ich fragte mich plötzlich, ob Henry Sidney sich ähnlich wie Amy zu einem Platz am Rande dieser Familie verdammt sah. Doch nein; er war hier, bei Hofe, und war genau wie alle Dudleys für dieses Leben erzogen worden. König Edward war in seinen Armen gestorben, und Sir Henry, wiewohl unter Edward ein eifriger Protestant, war das erste Familienmitglied gewesen, dem von Mary, der Katholischen, vergeben wurde. Henry Sidney war Amys Widerpart, nicht ihr männliches Ebenbild; er war wirklich Teil der Familie.
Das hieß nicht, dass ihn dieser Umstand gerade jetzt glücklich machen musste.
»My lady,« sagte ich, weil ich nicht Zeuge eines Ehestreits werden wollte, »es mag sehr wohl sein, dass kein Schurke Schuld am Tod Eurer Schwägerin trägt. Ihre Zofe und andere Diener bezeugen seltsame Reden, die sie führte. Sie betete zu Gott, sie von ihrem Elend zu erlösen.«
»Aber damit hätte sie sich für alle Ewigkeit verdammt«, sagte Mall bestürzt. »Das will ich nicht glauben.«
Henry Sidney strich sich über seinen modisch kurzen Bart. »Gott sei ihrer Seele gnädig. Aber werden die Geschworenen das glauben? Bei Hofe glaubt es bestimmt niemand.«
»Die Menschen glauben immer nur das, was sie wollen, unabhängig davon, was die Wahrheit ist, my lord.«
Ich hatte nicht die Absicht, mit ihnen über die wichtigste Entdeckung zu sprechen, die ich hier gemacht hatte: dass nämlich William Cecil derjenige gewesen war, der dem spanischen Botschafter jene Geschichte über mörderische Pläne erzählte, die Henry Sidney mir heute an den Kopf geworfen hatte. Wenn Henry versuchen wollte, Abstand zwischen sich und seinen Schwager zu legen – und danach sah es jetzt ganz aus –, dann war es nicht auszuschließen, dass er damit zu Cecil ging. Was Mall betraf, so schuldete eine Ehefrau ihrem Gatten Gehorsam, ganz gleich, wie eng sie sich ihrem Bruder verbunden fühlte. Doch etwas anderes drängte sich mir auf: Mall war die einzige Hofdame der Königin, die mir ein paar Fragen beantworten würde, die ich sonst niemandem stellen konnte.
»My lady, wie habt Ihr von dem Unglück erfahren«, wollte ich wissen. »Hat Robin es Euch erzählt?«
Ich hoffte darauf, dass dem nicht so war, denn mir kam es auf den Zeitpunkt an. Mall schüttelte den Kopf.
»Nein«, sagte sie, und alles in mir spannte sich in Erwartung. »Er hat mir erst in einem Brief von Kew aus darüber geschrieben.«
»Da wusste es der gesamte Hof schon«, fügte Henry bissig hinzu. »Zumindest warnen hätte er uns können!«
»Er hat den Anweisungen der Königin gehorcht«, sagte Mall beschwichtigend. »Vetter, ich habe es von ihr erfahren, noch ehe sie es dem Rest des Hofes eröffnete. Es war am …« Sie runzelte die Stirn, hob ihre linke Hand und rechnete an ihren Fingern nach. »Am Dienstagmorgen, als wir sie ankleideten. Sie bat die anderen Damen, im Vorzimmer zu warten, und sagte es mir. Zuerst glaubte ich, Amy sei einem ihrer Leiden erlegen. Schau mich nicht so an, Vetter Blount. Du weißt genauso gut wie ich, dass sie sich in diesem Jahr ständig über diese und jene Schmerzen beschwerte. Aber dann sagte die Königin, sie habe Robin befohlen, sich nach Kew zurückzuziehen und dort zu bleiben, bis ein Urteil über Amys Tod gesprochen worden sei, und da«, ihre Hände flatterten hilflos hoch und nieder, »da wurde mir natürlich klar, dass etwas anderes geschehen sein musste.«
Am Dienstag, dem zehnten, war ich in Abingdon in einer Herberge aufgewacht, in der bereits lebhaft über Amys Tod getratscht wurde, aber in Windsor war das gewiss noch nicht der Fall gewesen.
»Hat sie es noch einer ihrer Damen vor dem Rest des Hofstaats erzählt, my lady?«
»Nein. Kate und ihr Gemahl sind schließlich nicht bei Hofe«, erwiderte Mall und bezog sich auf ihre Schwester, die mit dem Earl of Huntington vermählt war.
»Niemand sonst?«, hakte ich nach.
Sie runzelte die Stirn. »Nun … Kat Ashley wirkte nicht überrascht, als sie es später allen Anwesenden verkündete, doch Mrs.Ashley ist nicht irgendeine Hofdame. Sie hat die Königin erzogen. Ich weiß nicht, wie es dir mit deinen Lehrern ging, Vetter; ich kann meiner Gouvernante auch heute noch kaum etwas verheimlichen. Wer uns als Kind gesehen hat, Tag um Tag, der kann uns für immer in die Seele blicken, glaube ich.«
»Auch du hast die Königin als Kind gekannt, Mall«, sagte ich leise und
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