Im Schatten der Leidenschaft
Stickerei beiseite und blinzelte ihren Vetter an. »Ich habe sie seit dem Mittagessen nicht mehr gesehen.«
»Was!« Hugo schob Dantes feuchte Nase ungeduldig von seinem Schenkel. »Wie kann das sein? Ist sie in ihrem Zimmer?«
»Ich dachte, sie wäre bei dir«, wiederholte Dolly. »Es wird mir üblicherweise nicht mitgeteilt, wenn ihr beide zusammen etwas unternehmt.« In der Feststellung lag ein gewisser Ton von selbstgerechtem Kummer.
Hugo drehte auf dem Absatz um, rannte hinunter in die Halle und rief laut nach Samuel.
»He, was ist denn jetzt los?« Samuel erschien aus der Küche und wischte sich dabei den Mund ab. »Ich bin gerade beim Abendessen.«
»Wo ist Chloe?«
»Wie soll ich das wissen? Ich habe seit dem Mittagessen keine Spur mehr von ihr gesehen. Ich dachte, sie wäre bei Ihnen.« Da er Hugos Unruhe spürte, machte er ein verwirrtes Gesicht. »Soll das heißen, daß sie das nicht ist?«
»Nein, ist sie nicht. Ich habe sie seit dem frühen Nachmittag nicht mehr gesehen.« Hugo zwang sich, ruhig nachzudenken, seine Gedanken zu ordnen. Hatte sie vielleicht Pläne für den Abend gehabt, die sie keinem erzählt hatte ... oder nicht hatte erzählen wollen? Wie die Sache mit Billingsdale.
Das war durchaus denkbar. Aber unwahrscheinlich. Chloe war keine gute Lügnerin. Ihre mutwilligen Unternehmungen waren nie dazu gedacht, längere Zeit geheim zu bleiben.
Sie hatte eine Kutschfahrt mit Denis DeLacy unternehmen wollen. Hatten sie einen Unfall gehabt? War der Wagen umgekippt? Ein Pferd gestolpert? Ein Hufeisen verlorengegangen? Straßenräuber?
Aber es war acht Uhr. Chloe war um zwei mit DeLacy aufgebrochen. Sechs Stunden! Das konnte kein gewöhnlicher Zwischenfall gewesen sein, sonst hätte sie bis spätestens fünf Uhr zurück sein müssen. Und wenn es eine größere Sache war, hätte sie doch in den drei Stunden wenigstens eine Nachricht schicken können. Außer sie lag mit gebrochenem Genick unter DeLacys Wagen ... Wie gut mochte der verdammte Jüngling wohl fahren? War er rücksichtslos? Das waren doch alle jungen Männer.
Er dachte an seine eigene Jugend ... Wie oft hatte er einen Wagen gelenkt, ohne geradeaus sehen zu können ... Wie oft hatte er einem Postillion einfach die Zügel entrissen und die Kutsche mit kreischenden Passagieren die Landstraße entlangrasen lassen, dabei eine Flasche Burgunder über dem Kopf geschwungen und mit seiner Pistole in die Luft geschossen?
Herrgott im Himmel! Wie die Zeit verging.
»Ich gehe in die Curzon Street«, sagte er und hastete die Treppe immer drei Stufen auf einmal hinauf. Ein paar Minuten später kam er schon mit dem Mantel über dem Arm zurück und zog die Handschuhe an.
Samuel, der seine Serviette weggelegt und sein Abendessen stehengelassen hatte, stand in der Halle und knöpfte sich ebenfalls den Mantel zu. »Und was ist in der Curzon Street?«
»Das Haus von DeLacys Mutter«, sagte Hugo knapp und öffnete die Tür. »Ich weiß nicht, wo ich sonst anfangen sollte.« Er machte sich fast im Laufschritt auf den Weg die Straße hinunter, und Samuel schnaufte hinter ihm her.
»Geh nach hinten zum Stall und schau nach, ob dort ein Grauschimmelgespann und ein Wagen stehen«, befahl Hugo, als sie
DeLacys Stadthaus erreichten. Samuel verschwand, und Hugo betätigte den Türklopfer.
Der Butler öffnete die Tür und verbeugte sich. »Die Familie ist beim Abendessen, Sir. Darf ich ihnen Ihre Karte bringen, Sir?«
»Nur wenn Denis DeLacy zu Hause ist«, sagte Hugo knapp.
»Mr. DeLacy ist nicht zu Hause, Sir.« Der Mann hielt die Tür mit einer Art ungeduldiger Höflichkeit weiter auf.
»Ist er heute nachmittag schon hiergewesen?«
»Nein, Sir. Soviel ich weiß, verbringt Mr. DeLacy den Abend mit Freunden außerhalb der Stadt.«
»Welche Freunde?«
»Ich habe nicht die Ehre, das zu wissen, Sir.« Der Butler machte einen Schritt rückwärts, um die Tür wieder zu schließen.
Hugo stellte seinen Fuß in die Spalte. »Warum denn so eilig, guter Mann?«
Sein Ton und das Glitzern in seinen Augen hatten eine Eindringlichkeit, die den Butler einschüchterte. »Sir?« sagte er steif, versuchte aber nicht noch einmal, das Gespräch zu beenden.
»Mr. DeLacy ist heute nachmittag mit seinem Wagen ausgefahren. Wußten Sie da schon, daß er nicht zurückkommen würde?«
»Ich glaube, etwas später kam eine entsprechende Nachricht, Sir.«
»Wieviel später?«
»Etwa um sechs Uhr, glaube ich, Sir.«
Vor zwei Stunden. Es war klar, daß er sich keine
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