Im Schatten der Lüge: Thriller (German Edition)
die aufklarenden Wolken der letzten Nacht, und eine Million Regentropfen glitzern auf dem Geländer der Promenade. An solchen Tagen zeigt sich Whitmouth, sauber gewaschen vom Regen, von seiner bestechendsten Seite. Martin wuchtet sich die Tasche mit dem Bettzeug über die Schulter und eilt durch die klare Luft. Auf der Straße ist erstaunlich viel los. Vor dem Polizeirevier steht ein Grüppchen Leute, die die Tür anstarren, als erwarteten sie, dass sie jeden Moment in Flammen aufgeht. Er denkt sich nichts dabei. Das Revier scheint auf diese Presseleute ja schon den ganzen Sommer lang magnetische Anziehungskraft auszuüben, insbesondere morgens und abends. Er hastet vorbei und biegt in die Canal Street, wobei er einen Stapel nicht eingesammelter Pappkartons vor dem Geschenkeladen an der Ecke umrundet.
Der Waschsalon ist leer. In der Mitte der Reihe laufen ein paar Maschinen, aber niemand ist da. Durch das Wellglasfenster in der Bürotür kann er die schemenhafte Gestalt der rumänischen Frau in ihrem Arbeitsoverall erkennen, die den Laden betreibt. Sie telefoniert, und er sieht, wie sie den Kopf zurückwirft und lacht. Martin wählt eine Maschine aus, steckt seinen geöffneten Wäschesack kopfüber in die Tür und kippt den Inhalt hinein. Er muss nie sortieren: Das muss man nur, wenn man nicht vorausdenkt. Alles, was er besitzt, ist bewusst so ausgesucht, dass es in das schmale Farbspektrum von Dunkelblau, Grau und Schwarz passt. Er fügt die Gefriertüte mit dem abgemessenen Waschmittel aus seiner Anoraktasche hinzu und wählt das Sechzig-Grad-Programm. Er will schon die Tür zuschlagen, als ihm der Geruch seines Anoraks in die Nase steigt, und stellt fest, dass es mindestens ein Jahr her sein muss, seit er ihn gekauft hat. Er kippt den Inhalt der Taschen auf die Sitzbank– Münzen, ein paar Kaugummis, die er, erinnert er sich, vor seiner ersten Verabredung mit Jackie Jacobs gekauft hat, und eine überschüssige Pommesgabel– und wirft auch die Jacke in die Maschine. Dann macht er sich auf den Weg in den Supermarkt, um sich etwas Leckeres für den Tag zu besorgen. Das Waschprogramm wird eine Stunde brauchen. Martin würde nie Geld für den Wäscheservice verschwenden, aber auch nie Zeit vergeuden.
Als er auf die Canal Street tritt, stößt er beinahe mit einer Person zusammen, die den Bürgersteig entlanggehetzt kommt. Es ist Amber Gordon– jedoch nicht, wie er sie kennt. Ihr Gesicht hat eine seltsam aschfahle Färbung, und sie ist nicht frisiert. Sie geht so schnell, dass sie ihm fast nicht mehr ausweichen kann; fast wäre sie gestrauchelt. Sie weicht vor ihm zurück, was er beinahe für eine persönliche Beleidigung gehalten hätte, doch dann wird ihm klar, dass sie ihn gar nicht erkannt hat. Er ist gekränkt. Ihre Augen sind rot gerändert, und sie sieht aus, als hätte sie sich im Dunklen angezogen.
» Entschuldigung«, murmelt sie geistesabwesend und hastet weiter die Straße entlang.
Kopfschüttelnd geht er weiter. Eigentlich interessiert ihn ja nicht, was mit dieser Frau los ist, aber irgendwie freut es ihn doch, sie so verzweifelt zu sehen. Ich hoffe, dass irgendetwas Schlimmes passiert ist. Würde dir ganz recht geschehen. Dich wieder auf den Boden zurückbringen.
Der Zeitungshändler hat fast keine Zeitungen mehr, ungewöhnlich für diese Tageszeit. Es gibt nur noch ein paar Ausgaben der Mail on Sunday und eine Tribune. Er versteht nicht, warum: Die Titelgeschichte der einen befasst sich mit Immigranten und Hauspreisen, und das andere, eher linksgerichtete Blatt macht mit einem unbedeutenden neuen Toryskandal auf. Er schnappt die Tribune einem anderen Kunden vor der Nase weg. Er muss unbedingt wissen, was Kirsty Lindsay diese Woche zu sagen hat.
Er nimmt eine Bratwurst im Schlafrock und eine kleine Flasche Sunny Delight aus der Kühlvitrine. Dann hält er sich volle fünf Minuten bei den Schokoriegeln auf, bevor er sich schließlich für ein Snickers entscheidet. Der Riegel hat zwanzig Prozent mehr gratis, sodass er länger etwas davon hat, während er auf die Wäsche wartet.
Es dauert, weil vor ihm mal wieder jemand trödelt, wie das in diesen kleinen Läden ja häufig vorkommt. Eine korpulente Frau zählt Kleingeld für eine Zweiliterflasche Cola ab, während Mrs Todiwallah teilnahmslos hinter der Theke wartet.
» Haben Sie schon gehört, wer es ist?«, fragt die korpulente Frau und findet einen Fünfer in einem Winkel ihres Geldbeutels. » Ah– und eine Packung Amber Leaf und ein paar
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