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Im Schatten der Lüge: Thriller (German Edition)

Im Schatten der Lüge: Thriller (German Edition)

Titel: Im Schatten der Lüge: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Marwood
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erkennt, dass die Lüge, die sie gelebt hat, nicht die Lüge ist, die sie sich gedacht hat.
    Der Raum verschwimmt. » Wie lange weißt du es schon?«, fragt sie. Leugnen ist zwecklos. Nicht, wenn er sie so ansieht.
    Sein Lächeln wird breiter, jetzt, da er sein Geständnis bekommen hat. » Ich dachte, das wüsstest du«, sagt er. » Ich hab dich manchmal gesehen und gedacht, die Frau kenne ich. Gleich und Gleich gesellt sich gern, vermute ich mal. Aber ich werde dir sagen, ab wann ich es ganz sicher wusste. Das war, als ich dich mit dem Kind gesehen habe. Wie du dich darübergebeugt hast. Als ich das gesehen habe, war alles sonnenklar.«
    » Das Kind?«
    Er nickt auffordernd. » Du weißt schon. Das Kind.«
    Sie weiß tatsächlich, wovon er spricht. Genau sogar, weil sie Vic damals zum ersten Mal wahrgenommen hat– richtig wahrgenommen und nicht nur sein gutes Aussehen. Der erste Tag, an dem etwas zwischen ihnen passierte– der erste Tag, wie sie jetzt erkennt, an dem sie sich in ihm geirrt hat. Damals arbeitete sie noch in der Tagesschicht. Ein Kind, das die Vorgaben für die Mindestkörpergröße zur Benutzung der Achterbahn ignoriert hatte, war unter dem Sicherheitsbügel hindurchgerutscht und in hohem Bogen kopfüber in die Wand der Schießbude gestürzt. Sie stand mit ihrem Müllsack voll weggeworfener Getränkebecher in der Nähe, hörte das Geräusch von splitterndem Holz und das immer lauter werdende Geschrei. Es kam ihr vor wie eine Ewigkeit, bis sie begriff, was passiert war. Der Kopf des Kindes war aufgeplatzt wie eine Wassermelone. Es war klar, dass der kleine Junge tot war, oder es bald sein würde.
    » O mein Gott«, sagt sie und wirft einen raschen Blick über die Schulter auf den Polizisten, ob er etwas bemerkt hat. Doch obwohl sie weiß, dass er ihnen zuhören muss, zeigt er keinerlei Anzeichen, irgendeinen Hinweis darauf zu haben, worüber sie sich unterhalten, oder irgendwelches Interesse daran. Warum sollte er auch?
    » Du warst großartig«, sagt Vic. » Wirklich großartig. So ruhig, als würde nichts zu dir durchdringen. Da wusste ich es ganz sicher.«
    Jemand hat die Klimaanlage auf höchste Stufe gestellt. Die Kälte kriecht ihr über die Haut wie Blutegel.
    » War es so wie beim ersten Mal, Annabel?«, fragt er. » Das wollte ich schon immer wissen. Ich habe nur gewartet, bis du es…«– er malt mit den Fingern Anführungsstriche in die Luft– » teilen wolltest.«
    Das Kind lag da wie eine kaputte Puppe, zur Hälfte gegen eine angebrochene Wand gelehnt, deren knallrote und grüne Streifen blutverschmiert waren. Sein Kiefer öffnete und schloss sich mechanisch wie bei einer Marionette. Amber stellte ihren Müllsack ab und bahnte sich ihren Weg durch die Menschenmenge, erfasst von dem alten, vertrauten Gefühl eiskalter Ruhe. Selbst hier unten und durch die Schreie der Menge konnte sie das immer lauter werdende Wehklagen der Mutter des Kindes hören, dieses verantwortungslose Weibsstück, das endlich gelernt hatte, dass Bestimmungen manchmal nicht ohne Grund existierten. Sie saß noch immer festgeschnallt in ihrem Achterbahnsitz, dazu gezwungen, die Korkenzieherschleife, den Loop und den ganzen Rest der Fahrt zu Ende zu bringen, während ihrem Sprössling aus dem, was einmal sein Kopf gewesen war, eine weiße Substanz sickerte. Seine Augen starrten geradeaus. Er schien Amber zu sehen, während sie sich näherte. Schien sie seltsamerweise zu erkennen.
    Ihr Gehör veränderte seinen Fokus. Vage registrierte sie, dass jemand sich übergab und damit eine Kettenreaktion auslöste. Ungerührt lief sie weiter, durch einen Sumpf würgender, schluchzender, schreiender Menschen, und nahm all das wie ein Hintergrundrauschen wahr. Alles, was sie deutlich hören konnte, war die Stimme des Kindes: die unsinnigen Silben, die sein Mund ausspuckte, weil sein beschädigtes Gehirn versuchte weiter zu funktionieren. Sie ließ sich neben ihm auf die Knie fallen: Nur sie beide, in einem Reservoir der Ruhe, seine Augen auf ihre gerichtet.
    Sie trug eine übergroße Strickjacke mit Gürtel, die ihr bis zu den Knien reichte. Die Saison hatte gerade erst begonnen und es war noch nicht warm. Sie starrte ihm in die sich zusehends trübenden Augen und zog die Jacke aus. Rasierter Schädel, pralle Arme, graue Hamsterbacken. Er trug ein Liverpool-Trikot. Sie erinnert sich an das scheußliche blaue und gelbe Nylon, das Carlsberg-Logo und den dunklen, feuchten Fleck, der größer und größer wurde, je mehr

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