Im Schatten der Lüge: Thriller (German Edition)
ausgeschlossen ist, dass sie ihn, zumal von hinten, erkennt. Er beobachtet, wie sie im Handschuhfach herumkramt und schließlich ein Navi nebst Anschlussdraht schwingt. Natürlich hat sie ein Navi, denkt er. Netter Job, wenn man so was kriegt.
Trotzdem komisch. Ihr Haus ist das langweiligste in der Straße, und der Renault muss mindestens acht Jahre alt sein. Er hätte sein Wochenbudget darauf verwettet, dass sie in dem mit dem Jaguar wohnt.
Im Feature » Werdegang eines Mörders« gibt es weitere Fotos von Amber Gordon: Der ganze Artikel deutet an, dass sie vermutlich die hauptsächliche Ursache dafür ist, dass er zum Mörder wurde, obwohl sie ihn erst sechs seiner zweiundvierzig Lebensjahre kennt. Anscheinend gibt es nur wenige Aufnahmen von Victor Cantrell, bevor er sie kennenlernte, nur ein paar aus einem Wohnwagenpark in Cornwall, wo er arbeitete, bevor er nach Whitmouth kam. Erneut verspürt Deborah einen Anflug von instinktiver Abneigung beim Betrachten der Frau. Es ist dieses verdammte Muttermal, denkt sie. Es ist tatsächlich identisch: gleiche Stelle, gleiche Form, gleiche Farbe. Wie hoch ist wohl die Wahrscheinlichkeit? Wie viele Menschen können den gleichen Schönheitsfehler haben, an genau der gleichen Stelle …
Erkenntnis durchzuckt sie… Und auch noch im gleichen Alter sein?
Zischend stößt Deborah den Atem aus. Mit beiden Händen packt sie die Zeitung und bringt ihr Gesicht ganz nah an das Bild auf der Seite. Oh. Mein. Gott. Gebleichte Haare, fünfundzwanzig Jahre später, gespannte Trotzhaltung, die riesige Sonnenbrille. Aber sie hat immer noch die gleiche Kieferpartie, die gleiche Oberlippe, die nur halb so breit wie ihr unteres Gegenstück ist, die dichten, dunklen Augenbrauen und im Widerspruch dazu der Farbton der Haut.
Das kann doch nicht sein.
Ihr ist eiskalt. Jeden Tag ist sie mit ihrer Mutter zum Prozess gegangen: die Hinterbliebenen, die lebenden Opfer. Sie starrte Annabel Oldacre und Jade Walker an, als sie am ersten Prozesstag im Zeugenstand saßen und ihre Aussage machten. Die haben meine kleine Schwester gestohlen. Ich habe sie nur gebeten, mit ihr in den Laden zu gehen, und sie haben sie entführt. Miststücke. Diese zwei elenden kleinen Miststücke. Und später, als sie fertig war, starrte sie auf ihre Nacken und auf ihre Profile, wenn sie zu ihren Verteidigern aufsahen (einander haben sie nie angesehen, nicht ein einziges Mal in diesen vier Tagen). Ihr stechender Blick war auf ihre Gesichter gerichtet, sie wollte, dass sie sie ansehen, wenn sie beim Betreten und Verlassen des Gerichtssaals an ihr vorbeikamen, wollte, dass sie sehen, was sie getan hatten. Sie hatte sich alles über Annabel Oldacre gemerkt, allerdings nie erwartet, sie wiederzusehen, mit oder ohne die Veränderungen einer ein Vierteljahrhundert währenden Tarnung.
» Scheiße«, sagt Deborah und greift nach dem Telefon. » Scheiße.«
KAPITEL 37
Im Fernsehen nehmen sie in Question Time gerade Politiker in die Zange, als in ihrer Tasche das Handy zu klingeln beginnt. Sie erwägt, nicht dranzugehen. Jim hat einen guten Tag gehabt. Voller Hoffnung und Chablis grand cru, den er bei Corney & Barrow am Paternoster Square getrunken hat, ist er nach Hause gekommen. Das hat ihre eigene Stimmung erstmals seit Tagen ebenfalls gehoben. Sie will keine weiteren Störungen durch die Außenwelt. Sondern, zumindest an diesem Abend, so tun, als wäre das Leben süß und ruhig und hoffnungsfroh. Doch dann geht sie dran.
In der Leitung erst Knacken, dann Gebrüll. » Hallo? Hallo?«
» Stan?«
» Hallo?«, schreit er noch einmal, dann flucht er. » Bleib dran.«
Sie wartet. Dann hört sie seine Stimme wieder, leiser jetzt und deutlicher. » Diese verfluchten Freisprechanlagen«, sagt er. » Wie geht’s dir?«
» Ganz gut«, erwidert sie. » Und dir?«
Er macht sich nicht die Mühe, darauf zu antworten. » Wo bist du?«
» Zu Hause.«
» Ich dachte, du wärst in Whitmouth.«
» Nein. Dave Park hat dort jetzt übernommen. Ich bin daheim.«
» Mist«, meint er. » Scheiß Dave Park.«
» Ist schon in Ordnung«, sagt sie. » Ich glaube, ich hab meine Dosis Whitmouth gehabt, um ehrlich zu sein.«
» Scheiß drauf. Sag mal, du hast nicht zufällig seine Nummer? Nein, keine Sorge. Macht nichts.«
» Okay«, sagt sie und zuckt überflüssigerweise die Achseln.
» Ich wollte sowieso eigentlich dich«, erklärt er.
Jim runzelt die Stirn und wedelt mit der Fernbedienung. Er hasst es, wenn Leute telefonieren, während der
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