Im Schatten der Lüge: Thriller (German Edition)
Fernseher läuft. Jeden Augenblick wird er die Lautstärke voll aufdrehen, um seinen Standpunkt deutlich zu machen. Sie erhebt sich vom Sofa und geht mit dem Telefon in die Diele. Lässt sich auf die unterste Treppenstufe plumpsen, neben den Stapel Wäsche, der hier immer liegt, und fängt an Socken zu sortieren.
» Ich hatte gehofft«, fährt Stan fort, » wir könnten Informationen austauschen.«
» Ja?«
» Ich bin dahin unterwegs. Für den Mirror.«
» Den Mirror? Wirklich?«
» Tja, also, alles, was die grade dort haben, sind irgendwelche zwölfjährigen Praktikanten. Und der Rest jagt Jodie Marsh oder sonst wem hinterher. Die dachten wohl, sie könnten jemand mit ein bisschen mehr Erfahrung dafür brauchen.«
» Was meinst du mit › dafür‹?«
» Scheiße, checkst du denn die Agenturen nicht?«
» Nein, nicht seit der Teezeit. Ich habe dienstfrei.«
Sie vernimmt ein erstauntes Zungenschnalzen. Stan hat nie dienstfrei. Er würde noch auf der Intensivstation die Breitbandfrequenz ausfindig machen. » Na schön. Hier gibt’s neue Entwicklungen. Der Mirror hat es exklusiv, jedenfalls haben sie der Informantin eine Vergütungspauschale zugesagt, weil sie im Mirror die Fotos gesehen und dann geschaltet hat, aber seit einer Stunde oder so steht es auch bei AP , und morgen werden es alle haben.«
Komm zum Punkt, Stan. » Wie bitte?«
» Irgendwer hat angerufen, und dadurch ist die ganze Cantrell-Geschichte ein ganz schönes Stück größer geworden. Ich brauche… Du weißt schon. Ihre Nummer, wenn du sie hast. Du weißt schon, weil du…«
» Wovon redest du überhaupt, Stan?«, unterbricht sie ihn.
» Ich bin nach da unten unterwegs, um bei Amber Gordon einen Fuß in die Tür zu kriegen. Ich wollte dir bloß Bescheid geben. Dachte, du magst vielleicht mitkommen. Als… Du weißt schon, du bist eine Kollegin. Freiberufler müssen hin und wieder zusammenhalten, und ich schulde dir noch was. Außerdem glaube ich, ich könnte vielleicht was Weibliches brauchen. Die denken offenbar alle, es ginge nur darum, den Fuß länger in der Tür zu halten als ein anderer, aber manchmal, braucht es eben einfach eine Frau, keinen Mann…«
» Davon gehe ich nicht aus«, erwidert sie. » Wenn sie bis jetzt nichts hat sagen wollen… Wenn sie jetzt redet, dann hat vorher jemand mit ihr verhandelt.«
» Nein«, sagt er, » du verstehst das falsch. Es geht nicht um ihren Typen. Na ja, natürlich schon, denn ohne ihn hätte es ja kein Mensch herausgefunden, aber…«
Sie weiß augenblicklich, was als Nächstes kommt. Eiskalte Angst befällt sie. Sie lässt die Socken, die sie gerade zusammenrollt, fallen und umklammert das Telefon, aus Angst, es ebenfalls fallen zu lassen.
» Es hat sich rausgestellt, dass Mrs Cantrell eigentlich Annabel Oldacre ist«, erklärt er.
Ihr kommt ein » Nein« über die Lippen. Allerdings nicht das » Nein«, für das er es hält.
» Doch«, gibt er zurück. » Ist das zu fassen?«
» Nein«, sagt sie wieder.
» Die Identifizierung ist aber ziemlich sicher«, meint er. » Offenbar durch die Schwester des Opfers.«
» Aber die kannte sie doch kaum«, platzt sie heraus. » Die sind sich bloß einmal begegnet, als–«
Sie besinnt sich gerade noch, bevor sie sich noch mehr verplappert. Sie erinnert sich kaum an Debbie Francis, hat eher ein verschwommenes Bild aus Piercings und nietenbesetztem Leder als ein Gesicht vor sich. Bei dem Gedanken, wie kurz davor sie war, sich zu verraten, bekommt sie eine Gänsehaut, und es läuft ihr eiskalt den Rücken herunter. Im Zimmer nebenan ertönt Applaus.
Stan redet weiter, als hätte er nichts bemerkt. » Schön, vielleicht, aber sie war damals offenbar jeden Tag bei der Gerichtsverhandlung. Vielleicht wollten die Hinterbliebenen auf diese Weise die Sache emotional für sich abschließen. Aber sie hatte dabei natürlich die Gelegenheit, sich ihre Gesichter genau anzusehen. Egal, wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass Amber Gordon tatsächlich etwas wusste?«
» Nicht so groß, wie du denkst«, sagt sie. » Im Gegenteil, sogar erstaunlich gering. Eigentlich nicht größer als bei jedem anderen, wenn man ihren sozialen Status berücksichtigt und wo sie lebt. Die Tatsache, dass sie… eine Vorgeschichte hat… hat keinen Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit. In Whitmouth gibt es jedes Jahr ein halbes Dutzend Gewaltverbrechen, auch ohne einen Serienmörder. Irgendjemand muss mit den Menschen verheiratet sein, die sie begehen.«
» Mhm«, meint
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