Im Schatten der Lüge: Thriller (German Edition)
ist.«
Sie folgen Vic in die Küche zurück. Er macht sich daran, Wasser aufzusetzen. Die gute alte Whitmouth-Lösung für alle Probleme: eine schöne Tasse Tee und einen Keks. Und weiß Gott, bei den meisten Problemen funktioniert es auch.
» Ich weiß. Ja«, sagt Jackie. » Vielleicht war es mir das auch nicht. Ich hab gedacht, er hätte es kapiert oder so. Dass es ihm langweilig wird. Aber seit du… Die Leiche. Das arme Mädchen. Grade ist sie noch lebendig, und eine Minute später macht irgendein Typ einfach… Das hat mich vielleicht mehr verängstigt, als ich gedacht hab. Aber jetzt ist es schlimmer. Ich kann… wirklich nicht mehr dort sein, Amber. Er steht einfach da und dann wieder dort, und es scheint völlig egal zu sein, was ich mache. Ich hab keine Ahnung, wann er schläft, weil es mir so vorkommt, als wäre er rund um die Uhr da.«
» Schon gut«, sagt Amber. » Du kannst hierbleiben. So lange du willst. Bis wir wissen, was wir machen sollen.«
Sie wirft Vic einen Blick zu. Er steht an der Spüle, seine Miene ist ausdruckslos. Sollte diese Sache irgendwelche Empfindungen in ihm auslösen, so zeigt er sie nicht.
Jackie errötet und zieht ein Päckchen Camel aus ihrer Jackentasche. Sieht sich suchend nach einem Feuerzeug um. Vic räuspert sich.
» Tut mir leid, Jackie«, sagt er, » aber würd’s dir was ausmachen, damit raus in den Garten zu gehen?«
Sie sieht überrascht aus, als hätte ihr noch nie zuvor jemand etwas Derartiges nahegelegt, nimmt aber das Päckchen und erhebt sich.
» Ich hol dir einen Aschenbecher«, sagt Amber.
Sie wirkt unerwartet dankbar. » Danke«, sagt sie.
Amber folgt ihr auf die Terrasse hinaus, Mary-Kate und Ashley heften sich leise trippelnd an ihre Fersen. Sie ist stolz auf ihr kleines Fleckchen Grund. Der salzhaltige Boden des Mündungsgebiets macht es ziemlich zwecklos, irgendetwas anzupflanzen, aber die Terrasse steht voller Töpfe und Körbe mit Fleißigen Lieschen, Geranien und Eisenkraut, und der kleine Garten ist freundlich und einladend. Die Gartenstühle sind gegen den Regen schräggestellt, die Sitzauflagen im Schuppen. Sie holt sie heraus und wischt Wasser vom Geflecht der Stühle. » Entschuldige«, sagt sie.
» Wie? Ach, nein, Quatsch. Es ist euer Haus.«
Vic erscheint mit dem Aschenbecher, stellt ihn auf den Tisch, lächelt und zieht sich wieder nach drinnen zurück.
Jackie steckt sich die Zigarette an. Amber sieht, wie das Nikotin bei ihr seine segensreiche Wirkung entfaltet, sie erinnert sich gut daran. Sie hat es sich wegen Vic abgewöhnt, vermisst es aber immer noch, jeden Tag.
» Meine Güte, ihr habt ’nen Aschenbecher! Die meisten haben keinen und sehen deine Kippen an, als wären sie Atommüll oder so. Sogar wenn sie im Müll bei den Kartoffelschalen liegen.«
» Tja, wir machen das nicht«, sagt Amber.
» Nein«, sagt Jackie. » Vic hat die Umgangsformen eines Priesters.«
» Also, so weit würde ich nun nicht gehen«, sagt Amber, insgeheim denkt sie jedoch, ja, mit diesem Wort würden die anderen unsere Beziehung wahrscheinlich am ehesten beschreiben: höflich. Vic hat wirklich Manieren. Ihm zu begegnen war, wie in ein großes, warmes Bad zu steigen: aufgehaltene Türen und demonstrierte Wertschätzung, zu wissen, dass ein Tisch nach dem Essen schnell abgeräumt und gesäubert wird. Nach all den Jahren, in denen sie vor Männern wirklich Angst gehabt hatte, vor ihrer Energie und Dickköpfigkeit; in denen sie sie für Tyrannen gehalten hatte, die nur an der eigenen Befriedigung interessiert waren.
Und dann war Vic da. Immer saubere Hände, trotz der ununterbrochenen Reparaturen an den Fahrgeschäften in Funnland, die einen Großteil seiner Arbeiten ausmachen. Immer ein Bitte und Danke und ein schützender Arm, der sie durch die Menschenmassen geleitet. Sie erinnert sich, dass er ihr auffiel, weil er den Besuchern helfend die Hand beim Ein- und Aussteigen reichte; weil er stets ein Lächeln und ein Lachen für jeden übrig hatte, der dafür empfänglich war; weil er jeden noch so großkotzigen Halbstarken, der auf Ärger aus war, besänftigen konnte. Beziehungen in Whitmouth waren in der Regeln nicht von Dauer, aber jetzt waren sie schon sechs Jahre zusammen, und wenn Höflichkeit der Preis für Beständigkeit ist, dann sei Gott für gute Umgangsformen gedankt. All diese Jahre, in denen sie sich danach gesehnt hat, an einen Ort der Ruhe zu gelangen– sie kann immer noch nicht glauben, dass sie es geschafft hat.
» Du weißt gar
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