Im Schatten der Lüge: Thriller (German Edition)
Züge der anderen. Bringen sie mit dem jeweiligen Kind in Zusammenhang, das sie einmal kannten.
» Also, du siehst aus, als hätte das Leben dich gut behandelt«, bemerkt Amber spitz.
Was sagt man darauf? Zu jemandem, mit dem das Leben ganz offensichtlich nicht so gut umgegangen ist? » Stimmt. Man muss zufrieden sein.«
» Ja«, meint Amber unterwürfig. Senkrechte Falten ziehen sich durch Ambers Oberlippe, als presse sie häufig die Lippen zusammen. Zwei weitere senkrechte Falten trennen ihre Augenbrauen. Bei Kirsty bilden sich am Mund Marionettenfalten und waagerechte auf der Stirn, außerdem leichte Krähenfüße um die Augen– Falten, die von Interesse zeugen und von Lachen, und keine von ihnen ist so tief eingegraben wie bei Amber. Ambers blondes Haar knistert wie Seegras. Hände, Handgelenke, Hals und Ohren sind schmucklos, mit Ausnahme einer praktischen Uhr mit wasserfestem Armband. Dagegen kommt sich Kirsty geradezu behängt vor, wird sich mit Unbehagen ihres Verlobungsrings bewusst, der Jim traditionsgemäß ein Monatsgehalt gekostet hat, der Kette und der Ohrringe, die nicht nur zusammenpassen, sondern auch mit echten, wenn auch kleinen, Smaragden besetzt sind.
Ambers Fingernägel sind kurz geschnitten, die Nagelhäute spröde und rissig, genau wie die abgearbeiteten Hände. Obwohl Kirsty für eine richtige Maniküre zu viel Zeit an der Tastatur verbringt, hält sie ihre Nägel in Form und schützt sie mit Nagelhärter, außerdem pflegt sie ihre Haut regelmäßig mit der Creme, die sie stets in der Handtasche hat. Nichts sagt mehr aus über den Gegensatz in unserem Leben, denkt sie.
» Du bist also Journalistin?«
» Ja.«
» Als ich dich kannte, konntest du kaum lesen.«
Kirsty errötet und schämt sich bei der Erinnerung daran. Denkt an die vornehme Bel Oldacre, damals an jenem Sommertag, und schämt sich erneut. » Ach, weißt du– ich hatte Glück in Exmouth… Dort durfte ich mich nicht einfach hinten in der Klasse verstecken und den Erwartungen entsprechen…«
Amber erbleicht und setzt sich auf. Sie wirkt– empört. Wütend. Hoppla, denkt Kirsty, da hab ich einen wunden Punkt getroffen.
» Exmouth? Die haben dich nach Exmouth geschickt?«
In Jugendanstalten weiß jeder über die anderen Anstalten Bescheid, zumindest über die großen. Man diskutiert über sie – ständig, angstvoll, neidisch –, während Insassen kommen und gehen, verlegt werden oder auf Bewährung entlassen werden. Kirsty weiß, welches Glück sie hatte, dass man sie nach Exmouth schickte. Sie ist sich dessen täglich bewusst und wird jedes Mal daran erinnert, wenn sie eine Story zu einem verwandten Thema schreiben muss. » Äh … Ja«, antwortet sie vorsichtig und versucht, die Lage zu sondieren.
» Weißt du, wohin sie mich geschickt haben?«, sagt Amber mehr anklagend als fragend.
» Nein«, erwidert Kirsty. » Natürlich nicht, Amber. Das weißt du doch.«
» Blackdown Hills«, sagt sie.
» O mein Gott!« Schon wieder fehlen ihr die Worte. Ihr ist ganz schlecht vor Erschütterung.
» Davon gehört?« Ambers starrt sie wütend an, der anklagende Tonfall ist wieder da.
» Ja«, erwidert sie. » Natürlich. Ich habe über die Schließung berichtet.«
» Tja«, bemerkt Amber bitter. » Und ich habe von Exmouth gehört.«
Kirsty schüttelt den Kopf und verspürt den seltsamen Drang, sich zu entschuldigen, als ob ihr eigenes Entkommen aus Gefangenschaft, Unterdrückung und Misshandlung Ambers Unglück verursacht hätte. Aber Blackdown Hills… In Exmouth wurde Blackdown Hills gewöhnlich als Drohung eingesetzt. Dorthin schickten sie einen, wenn sie dachten, man käme nie wieder raus.
» Ja. Weiß Gott. Reine Glückssache, vermutlich«, sagt sie überflüssigerweise.
» Ja«, entgegnet Amber. » Vermutlich.«
Amber sieht Kirsty an und verspürt einen Stich ins Herz. Natürlich habe ich geglaubt, du hättest die gleiche Bestrafung bekommen wie ich, denkt sie. Selbstverständlich. Und jetzt sieh uns nur an. Aus uns ist das genaue Gegenteil dessen geworden, was jeder prophezeit hätte, wenn er uns an diesem ersten Tag auf der Bank hätte sitzen sehen. Ich komme mir vor wie eine Laborratte in einem beschissenen Psychoexperiment.
Kirsty senkt die Augen und wendet den Blick ab, ihre Wangen sind mit einer leichten Röte überzogen. Sie sieht beschämt aus, als wäre sie schuld an Ambers Schicksal. Beide sind um Worte verlegen und kurzzeitig in Erinnerungen versunken.
» Hast du eigentlich Kinder?«, wechselt
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