Im Schatten der Lüge: Thriller (German Edition)
unternommen. Wenn die Polizei jetzt endlich aktiv wird, dann muss das auch jeder mitbekommen. Die Sensationslust bei einem Mord schlägt rasch in Empörung um, wenn die Polizei nicht schnell genug mit dem Finger auf jemand zeigen kann.
Was bedeutet » zur Vernehmung mitgenommen«? Wissen die etwas, das ich nicht weiß? Über Vic? War ich etwa blind?
Mary-Kate und Ashley kommen angetrottet, heften sich an ihre Fersen und folgen ihr auf Schritt und Tritt. Sechzehn Stunden ist er jetzt weg. Sechzehn Stunden. Das sieht nicht gerade nach einer Tasse Tee und einem kurzen Plausch aus. Herrje, was gäbe ich jetzt für eine Zigarette! Fünf Jahre komme ich jetzt ohne aus, aber das Verlangen ist noch genauso heftig. Sie überlegt, ob Jackie vielleicht welche liegengelassen hat, und ertappt sich dabei, dass sie auf der Suche nach einem Päckchen die Küchenschublade auf den Kopf stellt, obwohl sie weiß, dass er sie längst gefunden und entsorgt hätte, wenn es so wäre. Verdammt noch mal, Vic. Tagelang habe ich damals nicht geschlafen. Was hast du mir angetan?
Nichts hat er getan, Amber, was fällt dir ein? Es gibt eine Million Gründe, warum sie seine Fingerabdrücke dort gefunden haben können. Er arbeitet eben da, genau wie du, um Himmels willen! Vielleicht ist er hineingegangen, um dich zu suchen. Oder um sich unterzustellen, als es regnete. Vielleicht sind sie ja schon viele Jahre alt, und du bist einfach doch nicht so gründlich, wie du immer denkst.
Er kann es nicht sein. Nicht Vic. So etwas kann einem doch wohl nur einmal im Leben passieren. Zumindest wenn man nicht aktiv dazu beiträgt.
Doch sie weiß, dass es möglich ist. Ein Mörder hat exakt die gleiche Chance auf den Lottogewinn wie jeder andere Losbesitzer. Es ist einfach genauso wahrscheinlich, wie vom Blitz erschlagen oder von Terroristen erschossen zu werden oder an Schweinepest zu sterben. Aber der Mangel an Wahrscheinlichkeit ist kein automatischer Schutz davor, dass es doch noch einmal geschieht. Und sie hat oft genug publikumswirksame Talkshows wie die von Jeremy Kyle und Trisha gesehen, um alles über Selbstachtung zu wissen. Ihr ist klar, dass Leute, die keine haben, sich Probleme einhandeln, ohne überhaupt zu begreifen, dass sie selbst schuld daran sind. Nein, denkt sie. Nein, so bin ich nicht. Das kann nicht sein. Es gibt eine andere Erklärung. Es muss einfach eine andere geben.
Schon, aber… In Wirklichkeit weißt du nicht alles über ihn, Amber. All die Jahre, die ihr jetzt zusammenlebt, und du weißt nicht mehr über ihn als er über dich. Du weißt noch nicht einmal, was er treibt, während du arbeitest. Er könnte alles Mögliche tun. Zum Beispiel eine Doktorarbeit in Astrophysik schreiben, und du würdest es nicht merken, obwohl ihr euren Alltag miteinander teilt.
Der Morgen ist gekommen und gegangen. Sie hat dagesessen, ist im Zimmer auf und ab gewandert, hat sich hingelegt und hat den Geräuschen der Außenwelt zugehört: den Stimmen der Menschen, den Autotüren, dem Gebell streitender Hunde und dem Aufheulen von Motoren, dem Grölen betrunkener Nachtschwärmer und dem Kreischen der Schulkinder. Manchmal redet sie mit den Hunden, einfach um zu spüren, dass sie noch lebt. Sie heben den Kopf und klopfen mit den Schwänzen auf den Boden, und einen Augenblick lang ist sie getröstet.
Amber liegt auf dem Bett und ist vor Erschöpfung fast eingedöst, als sie den Schlüssel in der Haustür hört. Sie setzt sich auf, schwingt die Beine aus dem Bett und muss innehalten, weil ihr von der abrupten Bewegung schwindelig geworden ist. Sie klammert sich an der Tagesdecke fest undschließt die Augen, bis es vorbei ist, dann ruft sie: » Vic?«
Er reagiert nicht. Sie kann ihn in der Küche hören, wie er Küchenschranktüren öffnet und schließt und den Kessel füllt.
» Vic?«
Immer noch keine Antwort. Sie steht auf und geht hinunter.
Er sitzt mit dem Rücken zur Küchentür und starrt wie in Trance auf seinen Teebecher. » Du bist wieder da«, sagt sie. » Gott sei Dank.«
Zunächst reagiert er nicht, dann sagt er: » Willst du auch ’ne Tasse?«
Sie muss sich beherrschen, um ihn nicht anzufahren. Bescheuerte Tasse! » Nein, will ich nicht. Sondern erfahren, was passiert ist.«
Vic zuckt die Achseln, unter seinem T-Shirt wölben sich Muskeln. Sie macht einen Schritt nach vorn, um ihn– ja, was? Zu umarmen? Seine Schulter zu berühren? Er schüttelt die Hand ab, die sie nach ihm ausstreckt. » Nicht«, sagt er. » Ich stinke. Hatte seit
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