Im Schatten der Mitternachtssonne
daß seine irdische Habe auf seinen Sohn überging. Lotti hielt sich an ihrem Rockzipfel fest, und Zarabeth bückte sich und tätschelte dem Kind beruhigend den Kopf. Seit jener Nacht hatte Lotti sich von Toki ferngehalten.
»Der Alte sieht aus wie ein lebender Leichnam. Ihm fehlt nur noch das Leichentuch.«
»Ich finde, heute sieht er etwas besser aus«, sagte Zarabeth. »Aber diese seltsame Krankheit ist hinterhältig und gemein.«
Toki hob die Schultern und warf einen Blick in die Suppe, die Zarabeth zubereitete. »Wieder so ein fader Brei für den alten Tattergreis? Gräßliche Vorstellung, so etwas essen zu müssen.«
Zarabeth rührte schweigend in der Suppe.
»Ist er immer noch nicht mit dir ins Bett gegangen?«
Der lange Holzlöffel kam zum Stillstand. Langsam drehte Zarabeth sich zu ihrer neuen Schwiegertochter um, die einige Jahre älter war als sie. »Misch dich nicht in Dinge, die dich nichts angehen, Toki. Ich möchte nicht mit dir darüber reden. Hör auf, über Olav zu schimpfen.
Ohne ihn würdet Keith und du verhungern, das hast du mir selbst gesagt.«
Zarabeth wandte sich ab, aus Furcht vor ihrem eigenen Zorn. Sie hatte sich an die Eintönigkeit des Lebens gewöhnt, sie pflegte ihren kranken Ehemann, ertrug schweigend Tokis schlechte Laune und Keiths ständige Fragen nach dem Gesundheitszustand seines Vaters. An Magnus dachte sie nur nachts, wenn sie nicht schlafen konnte. Der Schmerz über seinen Verlust ließ nicht nach und erfüllte sie mit quälender Trauer und Verzweiflung. Sie hoffte, die Zeit würde ihre Seelenwunden heilen. Vielleicht würde sie ihn bis zum Herbst vergessen haben. Noch stand ihr sein Gesicht klar vor Augen; sie spürte seine Kraft, wie er sie im Arm hielt, hörte den Spott in seiner Stimme, die Zärtlichkeit und seine Kühnheit, Dinge auszusprechen, die ihr vor Erstaunen und Entzücken den Atem raubten.
Sie schüttelte den Gedanken an ihn ab. Keith und Toki waren wie üblich zum Nachtmahl erschienen. Toki meckerte wie immer. Lotti zupfte an Zarabeths Kleid, um auf sich aufmerksam zu machen. Zarabeth bückte sich zu ihrer kleinen Schwester hinunter.
Die Kleine hatte sich einen Schiefer von einem Holzbrettchen in den Finger gezogen. Zarabeth zog den Holzspan heraus, blies die kleine Wunde und tröstete das Kind. Toki saß in Olavs großem, geschnitzten Stuhl, beklagte sich über das schlechte Essen, das ihr wieder vorgesetzt werden würde, behauptete, das Kind sei dumm und verdiene ihre Aufmerksamkeit nicht.
Zarabeth erhob sich langsam. Toki würde nie damit aufhören. Nie. Tokis Mund schwieg nie still, ihr Jammern und ihre böse Reden hörten nie auf. Zarabeth strich sich das feuchte Haar aus dem Gesicht und holte tief Luft, um die Beherrschung nicht zu verlieren. Sie haßte Streit, aber so durfte es einfach nicht weitergehen. »Du hast kein Recht, in Olavs Stuhl zu sitzen, Toki. Auch wenn er krank ist, ist es immer noch sein Stuhl. Und ich verbiete dir, böse über meinen Ehemann oder meine Schwester zu sprechen. Hast du mich verstanden?«
Toki verschränkte ihre dünnen Arme vor der Brust und feixte. »Du Schlampe! Du glaubst, mich von oben herab behandeln zu können, weil dir hier alles gehört, aber nicht mehr lange. Du wirst hier nicht für immer die Hausherrin spielen. Nicht einmal mehr einen Monat, schätze ich. Der alte Mann wird dich nie besteigen. Du wirst kein Kind von ihm zur Welt bringen. Du wirst Keith nichts wegnehmen, was ihm zusteht. Der närrische, alte Tölpel lebt nicht mehr lange. Bald hat er Asche im Mund, und die Würmer nagen ihm das Fleisch von den Knochen, und dann wirst du verhungern, du und dieses idiotische Balg!«
Zarabeth war todmüde, ihr Zorn war verraucht. Sie schüttelte nur den Kopf. Doch dann fuhr sie beim Klang von Olavs wutentbrannter Stimme herum.
»Du elendes Miststück!« Er betrat den Raum, seine Schultern gerade, sein graues Gesicht vor Zorn gerötet. »Ich verbiete dir, so mit Zarabeth zu sprechen! Du zänkisches Weib. Bei Odins Wunden und Freyas Güte, ich hab nie wirklich geahnt, was mein Sohn ertragen muß. Oder hütest du deine niederträchtige Zunge bei ihm? Ich wette, daß du das nicht tust. Wie lange quälst du Zarabeth schon? Und sie schützt dich durch ihr Schweigen, du elendes, wertloses Stück Dreck. Bei Thor, du bist diejenige, die sterben sollte!«
»Vater, du tust ihr Unrecht«, eilte Keith seiner Frau zu Hilfe, der gerade den Raum betrat. »Toki macht sich nur Sorgen, ob du auch die richtige Pflege
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