Im Schatten des Dämons
Somit konnte man annehmen, daß der Wolkenbruch, der soeben
begann, weder Farbe noch Banknoten erreichte.
„Fluch!“ rief Klößchen. „Das ist aber
naß.“
Keiner hatte Regenjacke oder Cape mit.
Nach wenigen Minuten klebten allen die
Textilien an der Haut.
„Erkältungsgefahr besteht nicht“,
stellte Tim fest. „Der Regen ist so warm wie ein freies Gewässer neben einer
Kernkraftanlage.“
„Du bist ganz schön zynisch (bitterer
Spott)“, meinte Karl.
„Ich benenne nur die Wirklichkeit. So,
und jetzt zu den Wiholds. Viel können wir denen leider nicht berichten.
Eigentlich nur, daß wir die Älche nicht für die Vernichter der Autoreifen
halten. Vielleicht weiß Herr Wihold noch einen Hinweis.“
Sie fuhren los. Über die Straßen
flutete der Regen. Die Gullys schmatzten laut, was in ihrer Sprache hieß, sie
hätten genug, der Kanal sei voll.
Gaby sieht aus wie eine Meerjungfrau,
dachte Tim, die gerade aus der Ägäis (östliches Mittelmeer) auftaucht. Echt!
Gaby ist ein Mädchen für jedes Wetter: immer tauschön.
Sie radelten hintereinander.
Aus allen Kleidungsstücken tropfte es.
Die Reifen versprühten Spritzwasser
nach allen Seiten, und die Schar der Fußgänger hatte sich auf Null vermindert.
Die Wiholds werden sich freuen, dachte
Tim, wenn wir ihnen den Laden volltropfen. Feuchtigkeit vertragen nur die
Blechblas-Instrumente. In die wird zwangsläufig reingespuckt — vom
Musizierenden, auch Bläser genannt.
Die TKKG-Bande kam an der Einmündung
zur Kirchgasse vorbei.
Tim wandte den Kopf, gewohnheitsmäßig,
und erschrak.
„Halt!“ Er deutete mit ausgestrecktem
Arm. „Da liegt jemand.“
Die Entfernung war beträchtlich — noch
jenseits der Älchschen Hofeinfahrt.
Trotz des vorhang-dichten Regens sah
Tim die Gestalt. Ein Mann lag bäuchlings an der Mauer, mit ausgebreiteten
Armen.
„Der ist gestürzt“, sagte Karl.
„Freiwillig liegt er dort nicht. Vielleicht eine Ohnmacht infolge der Schwüle.
Daß der Blitz ihn getroffen hat, glaube ich weniger. Hab’ bisher Blitz und
Donner überhaupt vermißt.“
Tim sauste los, gefolgt von seinen
Freunden.
Als er sich über den Bewußtlosen
beugte, stutzte er.
Ein rosiger Schädel mit blonden, jetzt
nassen Haarinseln! Dazu ein totengräber-schwarzer Blouson.
„Gaby, das ist dieser Kolbe.“ Tim faßte
ihn an der Schulter und rollte ihn herum.
Kolbes Mund stand offen. Der nasse
Schnurrbart hing auf die Zähne. In diesem Moment schlug der Mann die Augen auf.
Der Blick verschwamm. Kolbe war weit
entfernt davon, ins Bewußtsein emporzutauchen.
„Hi...iiilfe!“ stöhnte er. „Arzt!
Zum... Arzt.“
„Wir bringen Sie hin“, sagte Tim. „Wer
ist Ihr Hausarzt?“
„Arzt... „, Kolbe schien wieder
abzurutschen in die Bewußtlosigkeit. Doch dann kam noch was. „Pr... unk, Dr.
Prunk!“
Die vier Freunde sahen sich
bedeutungsvoll an.
„Wird gemacht“, sagte Tim. „Zu dem
bringen wir Sie. Und da das ganz in der Nähe ist, brauchen wir nicht erst den
Notarzt. Wie man einer Hitze-Ohnmacht begegnet, weiß sicherlich auch ein
HNO-Spezialist.“
Aber das hörte Kolbe nicht mehr. Er war
wieder weggetreten in den Zustand des Tiefschlafs.
„Sieh mal!“ sagte Gaby. „Beide inneren
Brusttaschen sind herausgezogen, und auch die Hosentaschen sind verkehrtrum. Da
hat jemand ausgeplündert.“
„Vielleicht gar keine Hitze-Ohnmacht“,
sagte Karl, „sondern ein Überfall. Aber ich sehe keine Verletzung.“
„Das kann Dr. Prunk feststellen.“
Tim schob die Arme unter den Verletzten
und hob ihn hoch. Sie setzten ihn aufs Rennrad, wo Tim ihn festhielt, während
Karl die Tretmühle schob.
„So ein Glücksfall!“ meinte Klößchen. „Jetzt
haben wir einen unschlagbaren Grund, den Medizinmann aufzusuchen. Den der
Dämonie ( Besessenheit ) Verdächtigen, hähähäh.“
Der Transport war mühselig, die Strecke
zum Glück kurz. Als sie vor dem Haus Frischmeier-Platz 4 anlangten, war es
15.43 Uhr.
Tim lud sich den Bewußtlosen auf die
Schulter und schleppte ihn die Treppe hinauf in den ersten Stock.
Karl öffnete die Tür.
Der klinisch-saubere Flur war leer.
Aber die junge Helferin saß in der
Anmeldung.
Ein entsetzter Schrei gellte auf.
„Er lebt noch“, beruhigte Tim. „Aber es
ist wohl ein dringender Notfall.“
„Wie... wie... gestern?“
„Dringender, wie Sie sehen. Was den
Krankenschein betrifft, können Sie beruhigt sein. Kolbe gehört zu Ihren
Patienten. Wir haben ihn, so wie er ist, gefunden — nicht weit von
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