Im Schatten des Feuerbaums: Roman
steif, klug, strebsam wie du …«
Victoria fühlte sich von den Worten bloßgestellt, straffte den Rücken und überlegte fieberhaft, was sie entgegnen könnte. Doch ehe sie etwas sagen oder Juan das Buch zurückfordern konnte, ertönte vom zweiten Raum eine Stimme: »Hast du die Medikamente dabei?«
Victoria hatte die Tür nicht wahrgenommen, die jetzt laut krachend geöffnet wurde. Jiacinto blieb an den Rahmen gelehnt stehen, ließ seinen Blick kurz über die Gäste streifen und verharrte bei Victoria. Der Drang, die Augen zu senken, wurde übermächtig, aber sie verkniff ihn sich und musterte ihn ebenso ungeniert wie er sie. Obwohl sie ihn damals auf den Gleisen nur kurz gesehen hatte, hätte sie ihn unter Tausenden wiedererkannt – nicht an seinem Haar, das, zu einem strähnigen, verfilzten Schwanz gebunden, über den Rücken fiel, nicht an dem ungepflegten Bart, nicht an der grauen, fleckigen Kleidung, nicht einmal an diesen dunklen, blitzenden Augen. Aber etwas lag in seiner Haltung, was sie bei keinem anderen in diesem Maße gesehen hatte, etwas, das sie elektrisierte und an ein Raubtier denken ließ, gefährlich und unberechenbar und stets bereit, zum Sprung anzusetzen. Überdies hatte er etwas Maßloses an sich, etwas Zügelloses, was sie nicht besaß und nie besessen hatte.
Rebeca erhob sich von Juans Schoß. »Nicht ich habe die Medikamente, sondern sie.«
Jiacinto musterte Victoria aufs Neue. »Und wer ist sie?«
Etwas betroffen hörte Victoria zu, wie Rebeca vom Vorfall während der Zugfahrt berichtete. Sie war enttäuscht, dass er sie nicht wiedererkannt hatte, nun mit gerunzelter Stirn den Worten der Schwester lauschte und erst nach einer Weile nickte – das einzige Zeichen, dass er sich am Ende doch noch vage erinnerte. Sonderlich beeindruckt war er von diesen Erinnerungen wohl nicht. Er trat auf Rebeca zu, nahm einen Zug von ihrer Zigarette, und als Victoria ihm übereifrig die Phiolen reichte, nahm er sie zwar an sich, sah sie jedoch kein weiteres Mal an und dankte ihr auch nicht.
Juan erhob sich währenddessen vom Sofa. »Seit wann verteilst du eigentlich kostenlose Medikamente an die Huren?«, fragte er seinen Bruder. »Von den Anarchisten hört man viel – nur nicht, dass sie große Wohltäter der Armen seien.«
»In jedem Fall kämpfen wir für die freie Liebe«, hielt Jiacinto dagegen. »Und wie kann die Liebe frei sein, wenn man stets Angst haben muss, zu verrecken?«
Gelächter ertönte. »Vielleicht will Jiacinto das Salvarsan gar nicht an die Huren verteilen«, schaltete sich ein fremder Mann ein, »vielleicht braucht er es stattdessen selbst. Kein Wunder bei den vielen Frauen, mit denen er sein Lager teilt.«
»Zumindest habe ich noch nie für die Liebe zahlen müssen. Das überlasse ich Juan.«
Wütend ging Juan auf ihn los, beide Hände zu Fäusten geballt und bereit, auf den Bruder einzuschlagen. Rasch trat Rebeca dazwischen, legte beschwichtigend ihre Hand auf Juans Brust und drückte ihn wieder aufs Sofa, um sich flugs auf seinen Schoß zu setzen. Auch wenn Juan sich fügte, so schrie er Jiacinto doch an: »Hör auf, solche Lügen über mich zu erzählen! Ich würde nie die Notsituation von Frauen ausnutzen! Mein Leben lang war ich bei keiner Hure!«
Rebeca zwinkerte Victoria zu. »Die beiden sind anstrengend, nicht wahr? Meine Brüder müssen sich immer streiten. Juan glaubt an den Sozialismus. Und Jiacinto an gar nichts.«
Jiacinto lachte auf, widersprach aber trotzdem: »Das ist nicht wahr. Auch Anarchisten haben ihren Glauben. Wir glauben an uns selbst, an das Menschengeschlecht und seine Weiterentwicklung, wir glauben an den Gott der Zukunft … und, wie gesagt, an die freie Liebe.«
»Aber ihr glaubt nicht an den Staat«, grummelte Juan. »Ihr seid überzeugt, dass sich die Regierung ohnehin nie reformieren lässt, weswegen ihr nichts anderes tut, als zu protestieren, Unruhe zu stiften und Wahlen zu boykottieren. Nur – wenn man sich dem Staat verweigert, wie will man ihn je verändern?«
»Er wird sich ohnehin nie verändern«, meinte Jiacinto lapidar. »Die Reichen werden immer reicher, die Armen immer ärmer, die Regierung ist skrupellos und geldgierig.«
Juan schüttelte den Kopf. »Nur weil man gegen den Kapitalismus ist, muss man nicht auch gegen jede Form der Institution sein.«
»Ach, genug davon. Was hat je eine Regierung gegen soziale Missstände getan?«
»Sieh dir die Lage in Argentinien an. Dort geht’s gerechter zu, weil es mehr Gesetze
Weitere Kostenlose Bücher