Im Schatten des Mondkaisers (German Edition)
Milans Ableben verwickelt, entweder als Zuschauerin oder als Täterin.
Sie wünschte sich, mit jemandem darüber reden zu können. Wäre doch bloß Jonan hier. Der Einzige, der ihr vielleicht helfen konnte, war Cartagena, aber ihm traute sie mit jeder Minute weniger. Hatte er Milan auf dem Gewissen, weil dieser Carya etwas über ihre Vergangenheit hatte sagen wollen? Ich weiß, wer du wirklich bist , hatte auf der Notiz gestanden, die sie in einer kleinen Tasche ihres Untergewands bei sich trug, weil sie nicht riskieren wollte, dass sie ein Diener beim Aufräumen in ihrem Zimmer fand.
Einer Eingebung folgend, raffte sie ihr Kleid und zog etwas umständlich das gefaltete Stück Papier hervor. Dann lief sie zum Schreibtisch des Magisters hinüber, der im Nebenraum stand. Sie brauchte nicht lange zu suchen, um ein Dokument zu finden, das seine Handschrift trug. Es handelte sich um das Horoskop für den Mondkaiser. Als sie die beiden Texte verglich, bestätigte sich ihr Verdacht. Milan hatte sich mit ihr im Garten treffen wollen.
Nachdenklich wandte sie den Blick ab und ließ ihn durch den Raum schweifen. Wenn es hier etwas gab, das ihr erklären konnte, weswegen der Magister hatte sterben müssen, wo wäre dieser Hinweis dann wohl versteckt? Unter den Sofakissen? Im Dielenboden? In einem verborgenen Fach im Kleiderschrank? Oder …
Der große Globus fiel ihr ins Auge. Alle anderen Möbelstücke im Zimmer erweckten den Eindruck, als hätten sie sich schon dort befunden, als der Magister eingezogen war. Ähnliche Einrichtungsgegenstände gab es auch in Cartagenas Gemächern. Bei dem Globus dagegen handelte es sich um ein Einzelstück. Wenn Milan also nicht nachträglich in Sofa, Dielenboden oder Schrank ein Geheimfach eingerichtet hatte, durfte man annehmen, dass es dort keins gab. Abgesehen davon hatte sie in der Bibliothek gelesen, dass Zimmer von den einzelnen Höflingen auf Château Lune keineswegs auf Lebenszeit bewohnt wurden. Immer wieder hieß es umziehen, entweder weil man in der Gunst des Mondkaisers stieg oder fiel, weil in dem uralten Gemäuer Reparaturarbeiten nötig wurden, oder auch einfach nur weil hohe Gäste vor Ort weilten, denen man seine Gemächer abtreten musste. Das alles im Kopf, kam Carya der Globus, der den Magister sicher in jedes Zimmer, das er bewohnte, begleitet hatte, auf einmal wie ein guter Kandidat für ein Versteck vor.
Neugierig näherte sie sich ihm und nahm ihn in Augenschein. An der Äquatorlinie verlief ein schmaler Spalt, dort, wo die beiden Hälften des Globus zusammengesteckt worden waren. Allerdings erwies er sich als verklebt und ließ sich nicht öffnen. Einer Eingebung folgend fuhr sie mit dem Finger über die Linien der Längen- und Breitengrade – und tatsächlich existierte ein zweiter Spalt, kaum zu spüren und deutlich besser versteckt auf der Höhe des fünfzehnten Breitengrades. Carya versuchte, die Fingernägel hineinzuzwängen, aber vergeblich. Es muss einen Öffnungsmechanismus geben , dachte sie sich.
Da der Globus selbst ansonsten völlig glatt zu sein schien, wandte sie sich dem hölzernen Rahmen zu. Wie alle Möbelstücke im Schloss war auch er mit Schnitzereien reich verziert, und obendrein wies er zahlreiche Kupferbeschläge auf. Carya brauchte ein paar Minuten, aber dann fanden ihre tastenden Finger einen Knopf, der sich drücken ließ. Mit einem dreifachen Klacken lösten sich innere Riegel, und die obere Schale des Globus öffnete sich ein wenig.
Mit vor Aufregung pochendem Herzen hob Carya die Schale an. Volltreffer , dachte sie. Sie hatte Milans Versteck gefunden. Was genau sie dort allerdings gefunden hatte, vermochte sie nicht zu sagen. Ein schwarzer Kasten verbarg sich in der hohlen Erdkugel, gut befestigt am inneren Rahmen des Gestells, damit er auch nicht herunterfiel, wenn der Globus bewegt wurde. An dem Kasten gab es mehrere Knöpfe, Hebel und Drehschalter, außerdem einen kleinen Bildschirm, wie in ihrer Kapsel. Ein Funkgerät vielleicht? , überlegte Carya. Sie glaubte, einen ähnlichen Apparat bei Enzos Bruder Luceno auf der Insel der Invitros gesehen zu haben. Aber wenn das stimmte, mit wem stand Milan dann in Kontakt?
Sie nahm den Apparat von allen Seiten in Augenschein, und dabei bemerkte sie ein kleines Kästchen, das hinter dem Funkgerät am Holzrahmen befestigt war. Es besaß einen einfachen Klappdeckel. Als sie ihn öffnete, fand sie einen Ring, der in schwarzem Samt steckte. Sie nahm ihn heraus, und ihre Augen weiteten sich. Es
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